Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Disziplinarordnung für Richter. Rechtsstaatlichkeit. Richterliche Unabhängigkeit. Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen. Disziplinarvergehen aufgrund des Inhalts von Gerichtsentscheidungen. Unabhängige und durch Gesetz errichtete Disziplinargerichte. Einhaltung einer angemessenen Frist und Achtung der Verteidigungsrechte in Disziplinarverfahren. Beschränkung des Rechts und der Pflicht der nationalen Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden
Normenkette
EUV Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2; AEUV Art. 267; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
1. Die Republik Polen hat dadurch,
- dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), die für die Kontrolle der in Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen zuständig ist, nicht gewährleistet (Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 der Ustawa o Sądzie Najwyższym [Gesetz über das Oberste Gericht] vom 8. Dezember 2017 in konsolidierter Fassung, die imDziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiejvon 2019 (Pos. 825) veröffentlicht ist, in Verbindung mit Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa [Gesetz über den Landesjustizrat] vom 12. Mai 2011 in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw [Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze] vom 8. Dezember 2017 geänderten Fassung),
- dass sie zulässt, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden kann (Art. 107 § 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych [Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] vom 27. Juli 2001 in der Fassung, die sich aus den imDziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiejvon 2019 [Pos. 52, 55, 60, 125, 1469 und 1495] veröffentlichten nachfolgenden Änderungen ergibt, sowie Art. 97 §§ 1 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in konsolidierter Fassung, die imDziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiejvon 2019 [Pos. 825] veröffentlicht ist),
- dass sie dem Präsidenten der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) das Recht einräumt, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen (Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Fassung, die sich aus den imDziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiejvon 2019 [Pos. 52, 55, 60, 125, 1469 und 1495] veröffentlichten nachfolgenden Änderungen ergibt), und somit nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten” Gericht entschieden werden, und
- dass sie nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist entschieden werden (Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit), sowie vorsieht, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen (Art. 113a dieses Gesetzes) und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchführt (Art. 115a § 3 des Gesetzes), und somit die Achtung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleistet,
gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen.
2. Die Republik Polen hat dadurch, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen.
3. Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
4. Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden tragen ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 25. Oktober 2019,
Europäische Kommission, zunächst vertreten durch K. Banks, S. L. Kalėda und H. Krämer, dann durch K. Banks, S. L. Kalėda und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Königreich Belgien, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
Königreich Dänemark, zunächst vertreten durch M. Wolff, M. Jespersen und J. Nymann-Lindegren, dann durch M. Wolff und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte,
Köni...