Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Ehescheidung. Begriff ‚Entscheidung’. Anerkennung einer Eheauflösung in einem Mitgliedstaat, über die die Ehegatten in einer Vereinbarung übereingekommen sind und die von einem Standesbeamten eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochen wurde. Kriterium für die Feststellung, ob eine ‚Entscheidung’ vorliegt
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 2 Nr. 4, Art. 21
Beteiligte
Senatsverwaltung für Inneres und Sport |
Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Standesamtsaufsicht |
Tenor
Art. 2 Nr. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000
ist namentlich für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass
eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung” im Sinne von Art. 2 Nr. 4 darstellt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Beschluss vom 28. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Dezember 2020, in dem Verfahren
Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Standesamtsaufsicht,
gegen
TB,
Beteiligte:
Standesamt Mitte von Berlin,
RD,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan und M. Safjan (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter M. Ilešič, J.-C. Bonichot, S. Rodin, I. Jarukaitis, A. Kumin, M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
- der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Natale, Avvocato dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, M. Wilderspin und W. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Mai 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1, im Folgenden: Brüssel-IIa-Verordnung).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Standesamtsaufsicht (Deutschland) (im Folgenden: Standesamtsaufsicht) und TB wegen der Weigerung der Standesamtsaufsicht, die Beurkundung der in Italien erfolgten außergerichtlichen Ehescheidung von TB und RD im deutschen Eheregister ohne vorherige Anerkennung dieser Scheidung durch die zuständige deutsche Justizverwaltung zu genehmigen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Brüsseler Übereinkommen
Rz. 3
Art. 25 Abs. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der nachfolgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) bestimmt:
„Unter ‚Entscheidung’ im Sinne dieses Übereinkommens ist jede von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassene Entscheidung zu verstehen ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss oder Vollstreckungsbefehl, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Urkundsbeamten.”
Brüssel-IIa-Verordnung
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 1, 2, 8, 21 und 22 der Brüssel-IIa-Verordnung wurde ausgeführt:
„(1) Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Ge...