Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Begriff ‚Personenschäden’. Deckung durch die Pflichtversicherung. Verkehrsunfall. Tod eines Fahrzeuginsassen – Entschädigungsanspruch der minderjährigen Kinder. Immaterieller Schaden. Leid eines Kindes aufgrund des Todes eines Elternteils infolge dieses Unfalls. Entschädigung nur bei einer pathologischen Schädigung
Normenkette
Richtlinie 2009/103/EG Art. 3 Abs. 4
Beteiligte
HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung |
HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG |
Tenor
Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Ersatz des von nahen Familienangehörigen von Verkehrsunfallopfern erlittenen immateriellen Schadens durch den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer von der Voraussetzung abhängig macht, dass dieser Schaden bei diesen nahen Familienangehörigen zu einer pathologischen Schädigung geführt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 11. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2021, in dem Verfahren
LM,
NO
gegen
HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters M. Ilešič in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG, vertreten durch G. I. Ilieva, Advokat,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, U. Bartl, J. Heitz, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Georgieva, D. Triantafyllou und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. 2005, L 149, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Zweite Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LM und NO auf der einen Seite und der HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG (im Folgenden: HUK-COBURG), einem Versicherungsunternehmen, auf der anderen Seite über den Ersatz des LM und NO durch den Verkehrsunfalltod ihrer Mutter entstandenen immateriellen Schadens durch HUK-COBURG im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflicht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Zweite Richtlinie
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie sah vor:
„Die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG [des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 1972, L 103, S. 1)] bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.”
Richtlinie 2009/103/EG
Rz. 4
Mit der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11) wurden die bestehenden Richtlinien über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung einschließlich der Zweiten Richtlinie kodifiziert und infolgedessen mit Wirkung vom 27. Oktober 2009 aufgehoben. Nach der Entsprechungstabelle in Anhang II der Richtlinie 2009/103 entspricht Art. 1 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/103.
Rz. 5
Art. 1 der Richtlinie 2009/103 enthält die folgende Begriffsbestimmung:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
2. ‚Geschädigter’: jede Person, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat;
…”
Rz. 6
Art. 3 („Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht”) dieser Richtlinie bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 5 alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.
Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen der in Absatz 1 genannten Maßnahmen bestimmt.
…
Die in Absatz 1 bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.”
Rz. 7
In Art. 5 („Ausnahmen von der Kfz-Haftp...