Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl. Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Verfolgungsgründe. ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘. Verfolgungshandlungen. Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder zwischen den Verfolgungsgründen und dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen. Nichtstaatliche Akteure. Voraussetzungen für subsidiären Schutz. ‚Ernsthafter Schaden‘. Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen. Häusliche Gewalt. Drohung mit einem ‚Ehrenverbrechen‘
Normenkette
EURL 95/2011; EURL 95/2011 Art. 2 Buchst. d, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, Art. 9 Abs. 1-3, Art. 6 Buchst. c, Art. 2 Buchst. f., Art. 15 Buchst. a, b, Art. 4
Beteiligte
Intervyuirasht organ na DAB pri MS (Femmes victimes de violences domestiques) |
Intervyuirasht organ na Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet |
Tenor
1.Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.
2.Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95
ist dahin auszulegen, dass
es, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, nicht erforderlich ist, eine Verknüpfung zwischen einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe und solchen Verfolgungshandlungen festzustellen, wenn eine solche Verknüpfung zwischen einem dieser Verfolgungsgründe und dem Fehlen von Schutz vor diesen Handlungen durch die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, festgestellt werden kann.
3.Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache C-621/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) mit Entscheidung vom 29. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2021, in dem Verfahren
WS
gegen
Intervyuirasht organ na Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet,
Beteiligter:
Predstavitelstvo na Varhovnia komisar na Organizatsiyata na obedinenite natsii za bezhantsite v Bulgaria,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und N. Piçarra (Berichterstatter), der Richter M. Safjan, S. Rodin und P. G. Xuereb, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von WS, vertreten durch V. B. Ilareva, Advokat,
- – des Predstavitelstvo na Varhovnia komisar na Organizatsiyata na obedinenite natsii za bezhantsite v Bulgaria (Vertretung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in Bulgarien), vertreten durch M. Demetriou, J. MacLeod, BL, und C. F. Kroes, Advocaat,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des 17. Erwägungsgrundes sowie von Art. 6 Buchst. c, Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f, Art...