Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Art. 3 Nr. 2. Ne bis in idem. Begriff ‚dieselbe Handlung’. Möglichkeit der vollstreckenden Justizbehörde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Rechtskräftige Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat. Besitz von Betäubungsmitteln. Handel mit Betäubungsmitteln. Kriminelle Vereinigung
Beteiligte
Tenor
Für die Zwecke der Ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls stellt der Begriff „dieselbe Handlung” in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar.
In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die ausstellende Justizbehörde auf ein Informationsersuchen der vollstreckenden Justizbehörde im Sinne des Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses hin gemäß ihrem nationalen Recht und unter Beachtung der Anforderungen, die sich aus dem in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Begriff „dieselbe Handlung” ergeben, ausdrücklich festgestellt hat, dass das zuvor im Rahmen ihrer Rechtsordnung erlassene Urteil keine rechtskräftige Verurteilung wegen der in ihrem Haftbefehl bezeichneten Handlungen darstellt und den in diesem Haftbefehl genannten Strafverfolgungsmaßnahmen daher nicht entgegensteht, besteht für die vollstreckende Justizbehörde kein Anlass, wegen dieses Urteils den in diesem Art. 3 Nr. 2 vorgesehenen zwingenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung anzuwenden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Oberlandesgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Juni 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2009, in dem Verfahren über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
Gaetano Mantello
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, der Richter M. Ilešič, J. Malenovský, U. Lõhmus, E. Levits, A. Ó Caoimh, und L. Bay Larsen sowie der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch S. Unzeitig und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,
- der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou und G. Karipsiadis als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. de Ree als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von S. Lee, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss) und insbesondere des Grundsatzes ne bis in idem.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland in einem Strafverfahren, das die italienischen Behörden gegen Herrn Mantello und 76 weitere Personen eingeleitet haben, die im Verdacht stehen, in der Region Vittoria (Italien) einen Kokainhandel organisiert zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1, 5, 8, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses lauten:
„(1) Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, insbesondere in Nummer 35 dieser Schlussfolgerungen, sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.
…
(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwick...