Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Geistiges und gewerbliches Eigentum. Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. Vervielfältigungsrecht und Recht der öffentlichen Wiedergabe. Umfang. ‚Vergriffene’. Bücher, die nicht oder nicht mehr veröffentlicht werden. Nationale Regelung, die einer Verwertungsgesellschaft die Ausübung der Rechte für eine gewerbsmäßige Nutzung vergriffener Bücher in digitaler Form überträgt. Gesetzliche Vermutung der Zustimmung der Urheber. Fehlen eines Mechanismus zur Gewährleistung der tatsächlichen und individuellen Information der Urheber
Normenkette
Richtlinie 2001/29/EG Art. 2-3
Beteiligte
Ministre de la Culture et de la Communication |
Tenor
Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einer zugelassenen Verwertungsgesellschaft die Ausübung des Rechts überträgt, die Vervielfältigung und die öffentliche Wiedergabe sogenannter „vergriffener” Bücher – das sind in Frankreich vor dem 1. Januar 2001 veröffentlichte Bücher, die nicht mehr gewerbsmäßig verbreitet und nicht mehr in gedruckter oder digitaler Form veröffentlicht werden – in digitaler Form zu erlauben, und es den Urhebern dieser Bücher oder deren Rechtsnachfolgern unter den von ihr festgelegten Voraussetzungen gestattet, dieser Ausübung zu widersprechen oder sie zu beenden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 6. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2015, in dem Verfahren
Marc Soulier,
Sara Doke
gegen
Premier ministre,
Ministre de la Culture et de la Communication,
Beteiligte:
Société française des intérêts des auteurs de l'écrit (SOFIA),
Joëlle Wintrebert u. a.,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Soulier und Frau Doke, vertreten durch F. Macrez, avocat,
- der Société française des intérêts des auteurs de l'écrit (Französische Gesellschaft für die Vertretung der Interessen der Autoren, im Folgenden: SOFIA), vertreten durch C. Caron und C. Fouquet, avocats,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und D. Segoin als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, D. Hadroušek und S. Šindelková als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und D. Kuon als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Drwięcki und M. Nowak als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux, J. Samnadda und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 5 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Marc Soulier und Frau Sara Doke einerseits und dem Premier ministre (Premierminister) und dem Ministre de la Culture et de la Communication (Minister für Kultur und Kommunikation) andererseits über die Rechtmäßigkeit des Décret n° 2013-182, du 27 février 2013, portant application des articles L. 134-1 à L. 134-9 du code de la propriété intellectuelle et relatif à l'exploitation numérique des livres indisponibles du XXe siècle (Dekret Nr. 2013-182 vom 27. Februar 2013 über die Anwendung der Art. L. 134-1 bis L. 134-9 des Gesetzbuchs über das geistige Eigentum und betreffend die digitale Nutzung vergriffener Bücher des 20. Jahrhunderts) (JORF vom 1. März 2013, S. 3835).
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Berner Übereinkunft
Rz. 3
Art. 2 der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in der am 28. September 1979 geänderten Fassung (im Folgenden: Berner Übereinkunft) bestimmt in seinen Abs. 1 und 6:
„(1) Die Bezeichnung ‚Werke der Literatur und Kunst’ umfasst alle Erzeugnisse auf dem Gebiet der Literatur, Wissenschaft und Kunst, ohne Rücksicht auf die Art und Form des Ausdrucks...