Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Art. 102 AEUV. Missbrauch einer beherrschenden Stellung. Preise eines Telekommunikationsunternehmens. ADSL-Vorleistungsprodukte. Breitbandanschlüsse für Endkunden. Beschneidung der Margen der Wettbewerber oder ‚Kosten-Preis-Schere’
Beteiligte
Tenor
Die Preispolitik eines vertikal integrierten Unternehmens in beherrschender Stellung auf dem Markt für Vorleistungen für den asymmetrischen digitalen Teilnehmeranschluss, bei der die Differenz zwischen den auf diesem Markt praktizierten Preisen und den auf dem Endkundenmarkt für Breitbanddienste verlangten Preise nicht ausreicht, um die spezifischen Kosten zu decken, die das Unternehmen für den Zugang zum letztgenannten Markt aufwenden muss, kann ein Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV sein, sofern es keine objektive Rechtfertigung dafür gibt.
Im Rahmen der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer derartigen Politik sind jeweils sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Insbesondere
- sind grundsätzlich in erster Linie die Preise und Kosten des betreffenden Unternehmens auf dem Endkundenmarkt zu berücksichtigen. Nur wenn in Anbetracht der Umstände eine Bezugnahme auf diese Preise und Kosten nicht möglich ist, sind die Preise und Kosten der Wettbewerber auf eben diesem Markt zu prüfen;
- ist nachzuweisen, dass diese Politik insbesondere in Anbetracht der Unentbehrlichkeit des Vorleistungsprodukts – zumindest potenziell – eine wettbewerbswidrige Wirkung auf den Endkundenmarkt hat, ohne dass es eine wirtschaftliche Rechtfertigung dafür gibt.
Für eine derartige Beurteilung ist grundsätzlich ohne Bedeutung,
- dass für das betreffende Unternehmen keine aus einer Regulierungsvorschrift resultierende Verpflichtung zur Erbringung von Vorleistungen für den asymmetrischen digitalen Teilnehmeranschluss auf dem vorgelagerten Markt, auf dem es eine beherrschende Stellung hat, besteht;
- in welchem Grad dieses Unternehmen den betreffenden Markt beherrscht;
- dass das genannte Unternehmen nicht auch auf dem Endkundenmarkt für Breitbanddienste eine beherrschende Stellung hat;
- ob die Kunden, denen gegenüber eine derartige Preispolitik zur Anwendung kommt, neue oder alte Kunden des betreffenden Unternehmens sind;
- dass das beherrschende Unternehmen keine Möglichkeit hat, etwaige Verluste auszugleichen, die ihm durch eine derartige Preispolitik entstehen können;
- in welchem Grad die betreffenden Märkte sich entwickelt haben und ob auf diesen Märkten eine neue Technologie zur Anwendung gelangt, die sehr hohe Investitionen erfordert.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Stockholms tingsrätt (Schweden) mit Entscheidung vom 30. Januar 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 2009, in dem Verfahren
Konkurrensverket
gegen
TeliaSonera Sverige AB,
Beteiligte:
Tele2 Sverige AB,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. März 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Konkurrensverket, vertreten durch C. Zackari, C. Landström und S. Martinsson als Bevollmächtigte im Beistand von U. Öberg, advokat,
- der TeliaSonera Sverige AB, vertreten durch E. Söderlind und C. Mailund, advokater,
- der Tele2 Sverige AB, vertreten durch C. Wetter und P. Forsberg, advokater,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
- der finnischen Regierung, vertreten durch A. Guimaraes-Purokoski als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Parpala, E. Gippini Fournier und K. Mojzesowicz als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 102 AEUV anhand von Kriterien, nach denen eine durch die Preisgestaltung hervorgerufene Kosten-Preis-Schere als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anzusehen ist.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Konkurrensverk (schwedische Wettbewerbsbehörde) und der TeliaSonera Sverige AB (im Folgenden: TeliaSonera), in dem es um den Antrag dieser Behörde geht, die TeliaSonera zur Zahlung einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht und gegen Art. 82 EG zu verurteilen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 3
Ende der 90er-Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends sind viele schwedische Endanwender von Internetdiensten von einem Zugang über Einwählverbindung mit verhältnismäßig langsamer Übertragungsgeschwindigkeit auf verschiedene Arten von Breitbandanschlüssen mit bedeutend höherer Übertragungsgeschwindigkeit umgestiegen. Die häufigste Form des Breitban...