Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer. Sanktionen bei Nichtbeachtung der Verpflichtungen durch den Steuerpflichtigen. Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer. Recht auf Vorsteuerabzug. Vereinbarkeit der Sanktionen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 273
Beteiligte
Verfahrensgang
Tribunal de première instance du Luxembourg (Belgien) (Beschluss vom 08.06.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 359/43) |
Tenor
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität
sind dahin auszulegen, dass
sie – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren verhängten Geldbuße obliegenden Prüfungen – nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance du Luxembourg (Gericht Erster Instanz Luxemburg, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juni 2022, in dem Verfahren
SA CEZAM
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Delaude und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 62 Nr. 2 sowie der Art. 63, 167, 206, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SA CEZAM und dem belgischen Staat über mehrere Bescheide der belgischen Steuerverwaltung, mit denen gegen diese Gesellschaft Geldbußen wegen Verstößen gegen die Mehrwertsteuervorschriften verhängt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 62 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt
…
(2) als ‚Steueranspruch’ der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.”
Rz. 4
Art. 63 dieser Richtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.”
Rz. 5
Art. 167 der Richtlinie lautet wie folgt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 6
Art. 203 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.”
Rz. 7
Art. 206 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Jeder Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.”
Rz. 8
Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.”
Rz. 9
Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.”
Belgisches Recht
Rz. 10
Art. 53 Abs. 1 der Loi du 3 juillet 1969, créant le code de la taxe sur la valeur ajoutée (Gesetz zur Ei...