Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie 2004/83/EG. Von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zu erfüllende Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtlinge. Staatenlose Palästinenserin, die nicht den Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) beantragt hat. Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling. Zurückweisung wegen Nichterfüllung der Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Anspruch dieser Staatenlosen auf Anerkennung als Flüchtling nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83
Beteiligte
Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal |
Tenor
Für die Zwecke der Anwendung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes genießt eine Person den Schutz oder Beistand einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, wenn sie diesen Schutz oder Beistand tatsächlich in Anspruch nimmt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach den Art. 68 EG und 234 EG, eingereicht vom Fővárosi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2009, in dem Verfahren
Nawras Bolbol
gegen
Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter A. Rosas, P. Kūris, J.-J. Kasel und M. Safjan,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Bolbol, vertreten durch G. Győző, ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich, M. Fehér und K. Borvölgyi als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Belliard, G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. Simon und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 4. März 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, mit Berichtigung in ABl. 2005, L 204, S. 24, im Folgenden: Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Bolbol, einer staatenlosen Palästinenserin, und dem Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal (Amt für Zuwanderung und Staatsbürgerschaft, im Folgenden: BAH) wegen der Ablehnung des Antrags von Frau Bolbol auf Anerkennung als Flüchtling durch das BAH.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat (im Folgenden: Genfer Konvention).
Rz. 4
Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 der Genfer Konvention findet der Ausdruck „Flüchtling” auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will”.
Rz. 5
Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention bestimmt:
„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Sc...