Entscheidungsstichwort (Thema)
Fusionsrichtlinie, Begriff der Fusion, Austausch von Gesellschaftsanteilen, Unternehmenserwerber natürliche Person
Leitsatz (amtlich)
1. Der Gerichtshof ist gemäß Artikel 177 EG-Vertrag für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig, wenn dieses den fraglichen Sachverhalt nicht unmittelbar regelt, aber der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der Bestimmungen einer Richtlinie in nationales Recht beschlossen hat, rein innerstaatliche Sachverhalte und Sachverhalte, die unter die Richtlinie fallen, gleich zu behandeln, und seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften deshalb an das Gemeinschaftsrecht angepaßt hat.
2. a) Artikel 2 Buchstabe d der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, setzt nicht voraus, daß die erwerbende Gesellschaft im Sinne von Artikel 2 Buchstabe h dieser Richtlinie selbst ein Unternehmen betreibt oder daß die Unternehmen von zwei Gesellschaften in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht dauerhaft zu einer Einheit verbunden werden. Auch der Umstand, daß dieselbe natürliche Person, die Alleingesellschafter und Geschäftsführer der erworbenen Gesellschaften war, Alleingesellschafter und Geschäftsführer der erwerbenden Gesellschaft wird, steht der Einstufung des fraglichen Vorgangs als Fusion durch Austausch von Anteilen nicht entgegen.
b) Nach Artikel 11 der Richtlinie 90/434 müssen die zuständigen nationalen Behörden bei der Prüfung, ob der beabsichtigte Vorgang als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat, in jedem Einzelfall eine globale Untersuchung dieses Vorgangs vornehmen. Eine solche Untersuchung muß gerichtlich überprüfbar sein. Gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 90/434 können die Mitgliedstaaten vorsehen, daß vom Vorliegen einer Steuerhinterziehung oder -umgehung auszugehen ist, wenn der beabsichtigte Vorgang nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen beruht. Sie haben unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die hierfür erforderlichen innerstaatlichen Verfahren festzulegen. Eine generelle Vorschrift, mit der bestimmte Gruppen von Vorgängen auf der Grundlage von Kriterien der in Buchstabe a der zweiten Antwort genannten Art automatisch und unabhängig davon, ob tatsächlich eine Steuerhinterziehung oder -umgehung vorliegt, vom Steuervorteil ausgeschlossen werden, ginge jedoch über das zur Verhinderung einer solchen Steuerhinterziehung oder -umgehung Erforderliche hinaus und beeinträchtigte das mit der Richtlinie 90/434 verfolgte Ziel.
c) Der Begriff des vernünftigen wirtschaftlichen Grundes im Sinne von Artikel 11 der Richtlinie 90/434 setzt mehr als das bloße Streben nach einem rein steuerlichen Vorteil wie dem horizontalen Verlustausgleich voraus.
Normenkette
EWGRL 434/90 Art. 2 Buchst. d, h, Art. 11
Beteiligte
Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Amsterdam 2 |
Verfahrensgang
Gerechtshof Amsterdam (Niederlande) |
Tatbestand
"Artikel 177 - Zuständigkeit des Gerichtshofes - Nationale Rechtsvorschriften, die Gemeinschaftsvorschriften übernehmen - Umsetzung - Richtlinie 90/434/EWG - Begriff der Fusion durch Austausch von Anteilen - Steuermißbrauch oder -umgehung"
In der Rechtssache C-28/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Gerechtshof Amsterdam in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
A. Leur-Bloem
gegen
Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Amsterdam 2
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 2 Buchstabe d und 11 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (ABl. L 225, S. 1),
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, J. L. Murray und L. Sevón sowie der Richter C. N. Kakouris, P. J. G. Kapteyn, C. Gulmann, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann (Berichterstatter) und H. Ragnemalm,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Frau Leur-Bloem, vertreten durch Steuerberater J. H. W. Lenior,
- des Inspecteur der Belastingdienst/Ondernemingen Amsterdam 2,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch J. G. Lammers, stellvertretender Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder und Oberregierungsrat B. Kloke, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. J. Drijber, Jurist...