Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit in Unterhaltssachen. Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Unterhaltsberechtigten. Regressantrag einer öffentliche Aufgaben wahrnehmenden Einrichtung aus übergegangenem Recht des Unterhaltsberechtigten
Normenkette
EGV 4/2009 Art. 3 Buchst. b
Beteiligte
Tenor
Eine öffentliche Aufgaben wahrnehmende Einrichtung, die im Regresswege Beträge einfordert, die sie als Unterhalt an einen Unterhaltsberechtigten gezahlt hat, dessen Ansprüche gegen den Unterhaltsverpflichteten auf sie übergegangen sind, kann begründeterweise die Zuständigkeit des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Unterhaltsberechtigten gemäß Art. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen geltend machen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juli 2019, in dem Verfahren
WV
gegen
Landkreis Harburg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, U. Bartl und E. Lankenau als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Juni 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen WV, wohnhaft in Wien (Österreich), und dem Landkreis Harburg (Deutschland) (im Folgenden: antragstellende Einrichtung) betreffend die Begleichung einer Unterhaltsforderung zugunsten der in Deutschland wohnhaften Mutter von WV, deren Ansprüche kraft Legalzession auf die antragstellende Einrichtung übergegangen sind.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Brüsseler Übereinkommen
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der nachfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen.”
Rz. 4
Art. 5 Nr. 2 des Brüsseler Übereinkommens sieht vor:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:
…
2. wenn es sich um eine Unterhaltssache handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat”.
Haager Protokoll
Rz. 5
Das Haager Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht wurde mit dem Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 (ABl. 2009, L 331, S. 17) im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt (im Folgenden: Haager Protokoll).
Rz. 6
Art. 3 „Allgemeine Regel in Bezug auf das anzuwendende Recht”) dieses Protokolls bestimmt:
„(1) Sofern in diesem Protokoll nichts anderes bestimmt ist, ist für Unterhaltspflichten das Recht des Staates maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(2) Wechselt die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das Recht des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts anzuwenden.”
Rz. 7
Art. 10 des Haager Protokolls sieht vor, dass für das Recht einer öffentliche Aufgaben wahrnehmenden Einrichtung, die Erstattung einer der berechtigten Person anstelle von Unterhalt erbrachten Leistung zu verlangen, das Recht maßgebend ist, dem diese Einrichtung untersteht.
Verordnung Nr. 4/2009
Rz. 8
In den Erwägungsgründen 8, 9, 10, 11, 14, 15, 44 und 45 der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es:
„(8) Im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Pri...