Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung. Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes’. Erfordernis körperlicher Anwesenheit. Festhalten von Mutter und Kind in einem Drittstaat gegen den Willen der Mutter. Verletzung der Grundrechte von Mutter und Kind

 

Normenkette

EGV Nr. 2201/2003 Art. 8 Abs. 1

 

Beteiligte

UD

UD

XB

 

Tenor

Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein Kind körperlich in einem Mitgliedstaat anwesend gewesen sein muss, damit angenommen werden kann, dass es in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift hat. Insoweit kommt Umständen wie den im Ausgangsverfahren streitigen – nämlich zum einen dem vom Vater auf die Mutter ausgeübten Zwang mit der Folge, dass die Mutter ihr Kind in einem Drittstaat zur Welt gebracht hat und sich mit diesem seit dessen Geburt dort aufhält, und zum anderen der Verletzung der Grundrechte der Mutter oder des Kindes –, auch wenn sie nachgewiesen sind, keine Bedeutung zu.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 6. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juni 2018, in dem Verfahren

UD

gegen

XB

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot, E. Regan (Berichterstatter), C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des beim Gerichtshof am 14. Juni 2018 eingegangenen Antrags des vorlegenden Gerichts vom 6. Juni 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 5. Juli 2018, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. September 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von UD, vertreten durch C. Hames, QC, B. Jubb, Barrister, sowie J. Patel und M. Hussain, Solicitors,
  • von XB, vertreten durch T. Gupta, QC, und J. Renton, Barrister, sowie J. Stebbing, Solicitor,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von M. Gration, Barrister,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und A. Kasalická als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. September 2018

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen UD, der Mutter eines am 2. Februar 2017 in Bangladesch geborenen Kindes (im Folgenden: Kind), und XB, dem Vater des Kindes, über Anträge von UD, das Kind unter die Vormundschaft des vorlegenden Gerichts zu stellen sowie anzuordnen, dass sie selbst mit dem Kind nach England und Wales zurückkehren kann, um an dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht teilnehmen zu können.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

Die Erwägungsgründe 1 und 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(1) Die Europäische [Union] hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die [Union] unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.

(12) Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.”

Rz. 4

Art. 1 „Anwendungsbereich”) der Verordnung Nr. 2201/2003 legt fest, für welche Zivilsachen diese Verordnu...

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