Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen. Voraussetzungen für die Bestätigung. Rechte des Schuldners. Überprüfung der Entscheidung”
Beteiligte
Tenor
1. Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen in Verbindung mit Art. 288 AEUV ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, ein Überprüfungsverfahren wie das in Art. 19 vorgesehene in das nationale Recht aufzunehmen.
2. Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 805/2004 ist dahin auszulegen, dass sich der mit einem Antrag auf Bestätigung eines Versäumnisurteils als Europäischer Vollstreckungstitel befasste Richter, um eine solche Bestätigung vornehmen zu können, vergewissern muss, dass das nationale Recht tatsächlich und ohne Ausnahme in den beiden in dieser Vorschrift genannten Fällen eine vollständige Überprüfung einer solchen Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erlaubt und dass es eine Verlängerung der Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über eine unbestrittene Forderung nicht nur im Fall höherer Gewalt, sondern auch dann gestattet, wenn sonstige außergewöhnliche Umstände unabhängig vom Willen des Schuldners ihn daran gehindert haben, der in Rede stehenden Forderung zu widersprechen.
3. Art. 6 der Verordnung Nr. 805/2004 ist dahin auszulegen, dass die Bestätigung einer Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel, die jederzeit beantragt werden kann, dem Richter vorbehalten sein muss.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) mit Entscheidung vom 16. Juni 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2014, in dem Verfahren
Imtech Marine Belgium NV
gegen
Radio Hellenic SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, J.-C. Halleux und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und E. Pedrosa als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und A.-M. Rouchaud-Joët als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. L 143, S. 15).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Imtech Marine Belgium NV (im Folgenden: Imtech Marine) mit Sitz in Belgien und der Radio Hellenic SA (im Folgenden: Radio Hellenic) mit Sitz in Griechenland über ihren Antrag auf Bestätigung eines Versäumnisurteils, das über eine Forderung samt Säumniszuschlag und Verzugszinsen ergangen ist, als Europäischer Vollstreckungstitel im Sinne der Verordnung Nr. 805/2004.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 44/2001
Rz. 3
Art. 34 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) bestimmt, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn „dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte”.
Verordnung Nr. 805/2004
Rz. 4
Die Erwägungsgründe 10 bis 14, 18 und 19 der Verordnung Nr. 805/2004 lauten:
„(10) Auf die Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung in einem Verfahren ergangen ist, auf das sich der Schuldner nicht eingelassen hat, kann nur dann verzichtet werden, wenn eine hinreichende Gewähr besteht, dass die Verteidigungsrechte beachtet worden sind.
(11) Diese Verordnung soll der Förderung der Grundrechte dienen und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere mit der Charta der Grundrec...