Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr. Ausübung des Rechtsanwaltsberufs. Router für den Zugang zum privaten virtuellen Anwaltsnetzwerk (RPVA). RPVA-Router. Weigerung, einem Rechtsanwalt, der in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist, den Router zur Verfügung zu stellen. Diskriminierende Maßnahme
Normenkette
Richtlinie 77/249/EWG Art. 4
Beteiligte
Ordre des avocats du barreau de Luxembourg |
Ordre des avocats du barreau de Lyon |
Conseil national des barreaux (CNB) |
Conseil des barreaux européens (CCBE) |
Tenor
Die Weigerung der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, einem in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß zugelassenen Rechtsanwalt einen Router für den Zugang zum privaten virtuellen Anwaltsnetzwerk zur Verfügung zu stellen, nur weil er in dem ersten Mitgliedstaat, in dem er seinen Beruf als freier Dienstleister ausüben möchte, nicht zugelassen ist, stellt in Fällen, in denen das Hinzuziehen eines Einvernehmensanwalts nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte in Verbindung mit Art. 56 und Art. 57 Abs. 3 AEUV dar. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Weigerung angesichts des Kontexts, in dem sie ausgesprochen wird, tatsächlich den Zielen des Verbraucherschutzes und der geordneten Rechtspflege entspricht, die sie rechtfertigen könnten, und ob die damit verbundenen Beschränkungen in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Zielen stehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de grande instance de Lyon (Landgericht Lyon, Frankreich) mit Entscheidung vom 15. Februar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2016, in dem Verfahren
Jean-Philippe Lahorgue
gegen
Ordre des avocats du barreau de Lyon,
Conseil national des barreaux (CNB),
Conseil des barreaux européens (CCBE),
Ordre des avocats du barreau de Luxembourg,
Beteiligter:
Ministère public,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von J.-P. Lahorgue, avocat, vertreten durch sich selbst,
- des Ordre des avocats du barreau de Lyon, vertreten durch S. Bracq, avocat,
- des Conseil national des barreaux (CNB), vertreten durch J.-P. Hordies und A.-G. Haie, avocats,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Støvlbæk und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Februar 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. 1977, L 78, S. 17).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines von Rechtsanwalt Jean-Philippe Lahorgue gegen den Ordre des avocats du barreau de Lyon (Anwaltskammer Lyon, Frankreich), den Conseil national des barreaux (CNB) (Nationalrat der Anwaltskammern, Frankreich) und den Conseil des barreaux européens (CCBE) (Rat der europäischen Anwaltschaften) sowie den Ordre des avocats du barreau de Luxembourg (Anwaltskammer Luxemburg) angestrengten Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem er beantragt, der Anwaltskammer Lyon aufzugeben, ihm als Erbringer grenzüberschreitender Dienstleistungen den Router für den Zugang zum privaten virtuellen Anwaltsnetzwerk (RPVA) (im Folgenden: RPVA-Router) zur Verfügung zu stellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 4 der Richtlinie 77/249 lautet:
„(1)
Die mit der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden zusammenhängenden Tätigkeiten des Rechtsanwalts werden im jeweiligen Aufnahmestaat unter den für die in diesem Staat niedergelassenen Rechtsanwälte vorgesehenen Bedingungen ausgeübt, wobei jedoch das Erfordernis eines Wohnsitzes sowie das der Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation in diesem Staat ausgeschlossen sind.
(2)
Bei der Ausübung dieser Tätigkeit hält der Rechtsanwalt die Standesregeln des Aufnahmestaats neben den ihm im Herkunftsstaat obliegenden Verpflichtungen ein.
…”
Rz. 4
Art. 5 der Richtlinie sieht vor:
„Für die Ausübung der Tätigkeiten, die mit der Vertretung und der Verteidigung von Mandanten im Bereich der Rechtspflege verbunden sind, kann ein Mitgliedstaat den unter Artikel 1 fallenden Rechtsanwälten als Bedingung auferlegen,