Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie 92/50/EWG. Art. 29 Abs. 1. Dienstleistungsaufträge. Nationale Regelung, nach der sich Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht oder beträchtlicher Einfluss ausgeübt wird, nicht in Wettbewerb zueinander an ein und demselben Vergabeverfahren beteiligen dürfen
Beteiligte
Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura di Milano |
Tenor
Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, über die in dieser Bestimmung enthaltenen Ausschlussgründe hinaus weitere Ausschlussgründe vorzusehen, die gewährleisten sollen, dass die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz beachtet werden, sofern diese Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Das Gemeinschaftsrecht steht einer nationalen Vorschrift entgegen, mit der in Verfolgung der legitimen Ziele der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz im Rahmen der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ein absolutes Verbot für Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht oder die miteinander verbunden sind, aufgestellt wird, sich gleichzeitig in Wettbewerb zueinander an ein und demselben Ausschreibungsverfahren zu beteiligen, ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, nachzuweisen, dass sich dieses Verhältnis nicht auf ihr jeweiliges Verhalten im Rahmen dieses Ausschreibungsverfahrens ausgewirkt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Italien) mit Entscheidung vom 14. November 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2007, in dem Verfahren
Assitur Srl
gegen
Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura di Milano,
Beteiligte:
SDA Express Courier SpA,
Poste Italiane SpA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis und J. Malenovský,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Dezember 2008,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Assitur Srl, vertreten durch S. Quadrio, avvocato,
- der Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura di Milano, vertreten durch M. Bassani, avvocato,
- der SDA Express Courier SpA, vertreten durch A. Vallefuoco und V. Vallefuoco, avvocati,
- der Poste Italiane SpA, vertreten durch A. Fratini, avvocatessa,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Fiengo, avvocato dello Stato,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Kukovec und D. Recchia als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Februar 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) sowie der allgemeinen Grundsätze des gemeinschaftlichen Vergaberechts.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Assitur Srl (im Folgenden: Assitur) und der Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura di Milano (Kammer für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft von Mailand) wegen der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den genannten Bestimmungen und Grundsätzen, nach der Unternehmen, zwischen denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht oder von denen eines auf die anderen Unternehmen beträchtlichen Einfluss ausübt, nicht getrennt in Wettbewerb zueinander an ein und demselben Vergabeverfahren teilnehmen dürfen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Rz. 3
In Abschnitt VI Kapitel 2 („Eignungskriterien”) der Richtlinie 92/50 bestimmt Art. 29 Abs. 1:
„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren können Dienstleistungserbringer ausgeschlossen werden,
- die sich im Konkursverfahren, im gerichtlichen Vergleichsverfahren oder in Liquidation befinden oder ihre gewerbliche Tätigkeit eingestellt haben oder sich aufgrund eines in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen gleichartigen Verfahrens in einer entsprechenden Lage befinden;
- gegen die ein Konkursverfahren oder ein gerichtliches Vergleichsverfahren eröffnet wurde oder gegen die andere in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene gleichartige Verfahren eingeleitet worden sind;
- die aufgrund eines rechtskräftigen Urteils aus Gründen bestraft worden sind, die ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellen;
- die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom Auftraggeber nachweislich festgestell...