Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie 91/439/EWG. Gegenseitige Anerkennung der Führerscheine. Von einem Mitgliedstaat unter Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung erteilte Fahrerlaubnis. Verweigerung der Anerkennung durch den Aufnahmemitgliedstaat, die allein auf die Missachtung der Wohnsitzvoraussetzung gestützt wird
Beteiligte
Tenor
Die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2008/65/EG der Kommission vom 27. Juni 2008 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie es einem Aufnahmemitgliedstaat nicht verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet den von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen, wenn aufgrund von Angaben in diesem Führerschein feststeht, dass die den ordentlichen Wohnsitz betreffende Voraussetzung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht beachtet wurde. Der Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber des Führerscheins zuvor keine Maßnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie angewandt hat, ist insoweit unbeachtlich.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 2010, in dem Verfahren
Mathilde Grasser
gegen
Freistaat Bayern
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Grasser, vertreten durch Rechtsanwalt M. Wandt,
- des Freistaats Bayern, vertreten durch M. Niese als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. März 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 Buchst. b sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/65/EG der Kommission vom 27. Juni 2008 (ABl. L 168, S. 36) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/439).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Grasser, einer in Viereth-Trunstadt (Deutschland) wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, die Inhaberin eines in der Tschechischen Republik ausgestellten Führerscheins ist, und dem Freistaat Bayern wegen einer Entscheidung, mit der Frau Grasser das Recht aberkannt wurde, von diesem Führerschein im deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Gemäß dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 91/439 sind aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr Mindestvoraussetzungen für die Ausstellung eines Führerscheins festzulegen.
Rz. 4
In Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen den einzelstaatlichen Führerschein gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie nach dem EG-Muster in Anhang I oder Ia aus. …
(2) Die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine werden gegenseitig anerkannt.”
Rz. 5
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Die Ausstellung des Führerscheins hängt außerdem ab
…
b) vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student – während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten – im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats.”
Rz. 6
Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 91/439 kann jede Person nur Inhaber eines einzigen von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins sein.
Rz. 7
Art. 8 Abs. 2 und 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/439 bestimmt:
„(2) Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsprinzips kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.
…
(4) Ein Mitgliedstaat kann es ablehnen, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 genannten Maßnahmen angewendet wurde.”
Rz. 8
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ordentlicher Wohnsitz der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufl...