Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Verordnung (EG) Nr. 44/2001. Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge. Mit einer Botschaft eines Drittstaats geschlossener Vertrag. Immunität des Beschäftigungsstaats. Begriff ‚Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung’. im Sinne von Art. 18 Abs. 2. Vereinbarkeit einer Gerichtsstandsklausel, durch die die Gerichte eines Drittstaats für zuständig erklärt werden, mit Art. 21
Beteiligte
Demokratische Volksrepublik Algerien |
Tenor
1. Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es sich bei einer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gelegenen Botschaft eines Drittstaats in einem Rechtsstreit über einen Arbeitsvertrag, den die Botschaft im Namen des Entsendestaats geschlossen hat, um eine „Niederlassung” im Sinne dieser Bestimmung handelt, wenn die vom Arbeitnehmer verrichteten Aufgaben nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen. Es ist Sache des angerufenen nationalen Gerichts, zu bestimmen, welche Art von Aufgaben der Arbeitnehmer genau verrichtet.
2. Art. 21 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass eine vor Entstehen einer Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung unter diese Bestimmung fällt, sofern sie dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnet, außer den nach den Sonderbestimmungen der Art. 18 und 19 dieser Verordnung normalerweise zuständigen Gerichten andere Gerichte, und zwar gegebenenfalls auch Gerichte außerhalb der Union, anzurufen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2011, in dem Verfahren
Ahmed Mahamdia
gegen
Demokratische Volksrepublik Algerien
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, des Richters A. Rosas, der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, L. Bay Larsen, T. von Danwitz und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Demokratischen Volksrepublik Algerien, vertreten durch Rechtsanwalt B. Blankenhorn,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A.-M. Rouchaud-Joët als Bevollmächtigte,
- der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Mai 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 Abs. 2 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Mahamdia, der bei der Botschaft der Volksrepublik Algerien in Berlin (Deutschland) beschäftigt war, und seinem Arbeitgeber.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Das Wiener Übereinkommen
Rz. 3
Art. 3 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vom 18. April 1961 über diplomatische Beziehungen lautet:
„Aufgabe einer diplomatischen Mission ist es unter anderem,
- den Entsendestaat im Empfangsstaat zu vertreten,
- die Interessen des Entsendestaats und seiner Angehörigen im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen,
- mit der Regierung des Empfangsstaats zu verhandeln,
- sich mit allen rechtmäßigen Mitteln über Verhältnisse und Entwicklungen im Empfangsstaat zu unterrichten und darüber an die Regierung des Entsendestaats zu berichten,
- freundschaftliche Beziehungen zwischen Entsendestaat und Empfangsstaat zu fördern und ihre wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen auszubauen.”
Unionsrecht
Verordnung Nr. 44/2001
Rz. 4
Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
„Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen …”
Rz. 5
Die Erwägungsgründe 8 und 9 dieser Verordnung, die Bestimmungen über Beklagte mit Wohnsitz in einem Drittstaat betreffen, sind wie folgt abgefasst:
„(8) Rechtsstreitigkeiten, die unter diese Verordnung fallen, müssen einen Anknüpfungspunkt an das Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten aufweisen, di...