Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Unschuldsvermutung. Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld. Rechtsbehelfe. Verfahren zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Anordnung von Untersuchungshaft

 

Normenkette

Richtlinie (EU) 2016/343

 

Beteiligte

Milev

Emil Milev

 

Tenor

Art. 3 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie dem Erlass vorläufiger Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa einer Entscheidung einer gerichtlichen Stelle über die Fortdauer der Untersuchungshaft, nicht entgegenstehen, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Diese Richtlinie regelt hingegen nicht die Voraussetzungen, unter denen die Untersuchungshaft angeordnet werden kann.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 11. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

Emil Milev

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin (Berichterstatter) und E. Regan,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Milev, vertreten durch sich selbst,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. Marinova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. August 2018

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 10 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) im Licht deren Erwägungsgründe 16 und 48 sowie der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Emil Milev zur Frage seines Verbleibs in Untersuchungshaft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Der zehnte Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 besagt:

„Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch können durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden.”

Rz. 4

Der 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:

„Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Solche Erklärungen und gerichtlichen Entscheidungen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist. Davon sollten Strafverfolgungsmaßnahmen unberührt bleiben, die darauf abzielen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, wie etwa die Anklage, ebenso wie gerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung widerrufen wird, soweit dabei die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Ebenso unberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte [Person] darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden.”

Rz. 5

Im 48. Erwägungsgr...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge