Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Nationale Regelung, die aus therapeutischen Gründen und Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Recht auf Rechtsbelehrung. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Unschuldsvermutung. Schutzbedürftige Person
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 6, 47, 51 Abs. 1; Richtlinie 2012/13/EU Art. 8 Abs. 2; Richtlinie 2013/48/EU Art. 12; Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 3
Beteiligte
Tenor
1. Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs sind dahin auszulegen, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen.
2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein gerichtliches Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegenstehen, soweit diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.
3. Die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass weder die Richtlinie noch diese Bestimmung der Charta der Grundrechte auf ein gerichtliches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) vorsehen, Anwendung findet, wenn sich das Verfahren darauf gründet, dass der Betroffene angesichts seines Gesundheitszustands eine Gefahr für seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellen könnte.
4. Der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldvermutung ist dahin auszulegen, dass er im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 2018, in dem Strafverfahren gegen
EP,
Beteiligte:
Rayonna prokuratura Lom,
KM,
HO,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský und C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen