Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung. Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Rechtsvorschriften und Tarifverträge. Arbeitnehmer, die während des bezahlten Jahresurlaubs infolge Krankheit arbeitsunfähig sind. Weigerung, die betreffenden Urlaubstage gutzuschreiben, sofern dadurch die tatsächliche Dauer des bezahlten Jahresurlaubs von vier Wochen nicht unterschritten wird. Unanwendbarkeit in Fällen, in denen nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte das Recht der Union durchgeführt wird
Normenkette
AEUV Art. 153; Richtlinie 2003/88/EG Art. 7, 15; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2, Art. 51 Abs. 1
Beteiligte
Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry |
Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry |
Hyvinvointialan liitto ry |
Tenor
1. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften und Tarifverträgen, die die Gewährung von bezahltem Jahresurlaub vorsehen, der über die in dieser Bestimmung vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen hinausgeht, im Krankheitsfall aber eine Gutschrift der über diese Mindestdauer hinausgehenden Urlaubstage ausschließen, nicht entgegensteht.
2. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist in Verbindung mit deren Art. 51 Abs. 1 dahin auszulegen, dass er auf solche nationalen Rechtsvorschriften und Tarifverträge nicht anwendbar ist.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Työtuomioistuin (Arbeitsgericht, Finnland) mit Entscheidungen vom 18. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2017, in den Verfahren
Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry
gegen
Hyvinvointialan liitto ry,
Beteiligte:
Fimlab Laboratoriot Oy (C-609/17),
und
Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry
gegen
Satamaoperaattorit ry,
Beteiligte:
Kemi Shipping Oy (C-610/17),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Richter M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, T. von Danwitz und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Februar 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry, vertreten durch J. Kasanen und M. Nyman,
- des Hyvinvointialan liitto ry und der Fimlab Laboratoriot Oy, vertreten durch M. Kärkkäinen und I. Kallio,
- des Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry, vertreten durch J. Tutti und J. Hellsten,
- des Satamaoperaattorit ry und der Kemi Shipping Oy, vertreten durch M. Kärkkäinen und I. Kallio,
- der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und M. Huttunen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juni 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry (im Folgenden: TSN) und dem Hyvinvointialan liitto ry (Rechtssache C-609/17) sowie zwischen dem Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry (im Folgenden: AKT) und dem Satamaoperaattorit ry (Rechtssache C-610/17) wegen der Weigerung, bei zwei Arbeitnehmern, die während eines Teils des bezahlten Jahresurlaubs infolge Krankheit arbeitsunfähig waren, die betreffenden Krankheitstage ganz oder teilweise dem Urlaubskonto gutzuschreiben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 2003/88 wurde auf der Grundlage von Art. 137 Abs. 2 EG (jetzt Art. 153 Abs. 2 AEUV) angenommen.
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 1, 2 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„(1) Die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung [(ABl. 1993, L 307, S. 18)], die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit...