Entscheidungsstichwort (Thema)
Verordnung (EG) Nr. 1393/2007. Zustellung von Schriftstücken. Im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässige Partei. Kein im Inland ansässiger Bevollmächtigter. Zu den Akten genommene Verfahrensschriftstücke. Vermutung der Kenntnis
Beteiligte
Tenor
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken”) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die für eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte belassen werden und damit als zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem erstgenannten Staat ansässig ist, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sad Rejonowy w Koszalinie (Polen) mit Entscheidung vom 15. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2011, in dem Verfahren
Krystyna Alder,
Ewald Alder
gegen
Sabina Orłowska,
Czesław Orłowski
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und J.-J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau und Herrn Alder, vertreten durch K. Góralska, adwokat,
- von Frau Orłowska und Herrn Orłowski, vertreten durch F. Pniewska, Rechtsberaterin,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Czech, M. Arciszewski und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch R. Chambel Margarido und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. September 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken”) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. L 324, S. 79) sowie von Art. 18 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau und Herrn Alder (im Folgenden: Eheleute Alder) einerseits sowie Frau Orłowska und Herrn Orłowski (im Folgenden: Eheleute Orłowski) andererseits über einen Antrag Ersterer auf Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Zahlung einer Forderung, das sie gegen Letztere eingeleitet hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 6 bis 8 und 12 der Verordnung Nr. 1393/2007 lauten:
„(6) Die Wirksamkeit und Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren in Zivilsachen setzt voraus, dass die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke unmittelbar und auf schnellstmöglichem Wege zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten örtlichen Stellen erfolgt. Die Mitgliedstaaten dürfen erklären, dass sie nur eine Übermittlungs- oder Empfangsstelle oder eine Stelle, die beide Funktionen zugleich wahrnimmt, für einen Zeitraum von fünf Jahren benennen wollen. Diese Benennung kann jedoch alle fünf Jahre erneuert werden.
(7) Eine schnelle Übermittlung erfordert den Einsatz aller geeigneten Mittel, wobei bestimmte Anforderungen an die Lesbarkeit und die Originaltreue des empfangenen Schriftstücks zu beachten sind. Zur Sicherstellung der Übermittlung muss das zu übermittelnde Schriftstück mit einem Formblatt versehen sein, das in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Ortes auszufüllen ist, an dem die Zustellung erfolgen soll, oder in einer anderen vom Empfängerstaat anerkannten Sprache.
(8) Diese Verordnung sollte nicht für die Zustellung eines Schriftstücks an den Bevollmächtigten einer Partei in dem Mitgliedstaat gelten, in dem das Verfahren anhängig ist, unabhängig davon, wo die Partei ihren Wohnsitz hat.
…
(12) Die Empfangsstelle sollte den Zustellungsempfänger schriftlich unter Verwendung des Formblatts darüber belehren, dass er die Annahme des Schriftstücks bei der Zustellung oder dadurch verweigern darf, dass er das Schriftstück binnen einer Woche an die Empfangsstelle zur...