Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Flüchtlingseigenschaft. Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft. Veränderung der Umstände. Möglichkeit, den Schutz des Herkunftslands in Anspruch zu nehmen. Beurteilungskriterien. Finanzielle und soziale Unterstützung. Unbeachtlich
Normenkette
Richtlinie 2004/83/EG Art. 2 Buchst. c, Art. 7 Abs. 2 …, Art. 11, 11 Abs. 1 Buchst. e
Beteiligte
Secretary of State for the Home Department |
Secretary of State for the Home Department |
Tenor
1. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass der „Schutz”, auf den diese Bestimmung hinsichtlich des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft Bezug nimmt, den gleichen Anforderungen entsprechen muss, wie sie sich hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Art. 2 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie ergeben.
2. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass eine etwaige soziale und finanzielle Unterstützung seitens privater Akteure wie der Familie oder des Clans des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht den sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Schutzanforderungen genügt und damit weder relevant ist, wenn es darum geht, die Wirksamkeit oder die Verfügbarkeit des vom Staat gebotenen Schutzes im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie zu beurteilen, noch, wenn es darum geht, nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung festzustellen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 22. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. März 2019, in dem Verfahren
Secretary of State for the Home Department
gegen
OA,
Beteiligter:
United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter A. Kumin, T. von Danwitz (Berichterstatter) und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery und J. Simpson als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
- der französischen Regierung, zunächst vertreten durch A.-L. Desjonquères, A. Daniel, D. Colas und D. Dubois, dann durch A.-L. Desjonquères, A. Daniel und D. Dubois als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch A. Azema, M. Condou-Durande und J. Tomkin, dann durch A. Azema und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c, Art. 7 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12, Berichtigung ABl. 2005, L 204, S. 24).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister, Vereinigtes Königreich) und OA, einem somalischen Staatsangehörigen, wegen der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von OA.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt (im Folgenden: Genfer Konvention oder Genfer Flüchtlingskonvention).
Rz. 4
Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention findet der Begriff „Flüchtling” auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozi...