Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Elterliche Verantwortung. Zuständigkeit im Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes. Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in einem Mitgliedstaat vor dem widerrechtlichen Verbringen. Rückgabeverfahren zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat. Begriff ‚Antrag auf Rückgabe‘
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 10-11; Haager Kindesentführungsübereinkommen Fassung: 1980-10-25
Beteiligte
Tenor
1.Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000
ist dahin auszulegen, dass
diese Bestimmung nicht allein deshalb ihre Anwendbarkeit verliert, weil die Zentrale Behörde eines Drittstaats eingeschaltet wurde, um ein Verfahren zur Rückgabe eines Kindes nach dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung durchzuführen, und dieses Verfahren gescheitert ist.
2.Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003
ist dahin auszulegen, dass
weder ein auf Rückgabe des Kindes in einen anderen Staat als den Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gerichteter Antrag noch ein vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats gestellter Antrag auf das Sorgerecht für das Kind unter den Begriff „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.
3.Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003
ist dahin auszulegen, dass
er bei der Durchführung eines Verfahrens zur Rückgabe eines Kindes nach dem am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung zwischen einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten befindet, keine Anwendung findet.
Tatbestand
In der Rechtssache C-35/23 [Greislzel](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Beschluss vom 16. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2023, in dem Verfahren
Vater
gegen
Mutter,
Beteiligte:
Kind L,
Rechtsanwältin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – des Vaters, vertreten durch Rechtsanwältin A. Hamerak und Rechtsanwalt T. von Plehwe,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, R. Kanitz und J. Simon als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Kozak und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Vollrath und W. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Februar 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10 und 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem in der Schweiz wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, dem Vater des minderjährigen Kindes L, und dessen Mutter über die elterliche Verantwortung für das Kind.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
Rz. 3
Gemäß der Präambel des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) ist dieses darauf gerichtet, „das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang mit dem Kind zu gewährleisten“.
Rz. 4
Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens lautet:
„Jeder Vertragsstaat bestimmt eine zentrale Behörde, welche die ihr durch dieses Übereinkommen übertragenen Aufgaben wahrnimmt.“
Rz. 5
Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens bestimmt:
„Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so...