Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Lugano-II-Übereinkommen. Rechtshängigkeit. Begriff ‚Gericht’. Schlichtungsbehörde nach Schweizer Recht, die für das jedem Erkenntnisverfahren vorangehende Schlichtungsverfahren zuständig ist
Beteiligte
Landratsamt Schwäbisch Hall |
Tenor
Die Art. 27 und 30 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss des Rates 2009/430/EG vom 27. November 2008 genehmigt wurde, sind dahin auszulegen, dass bei Rechtshängigkeit ein „Gericht” zu dem Zeitpunkt als angerufen gilt, zu dem ein obligatorisches Schlichtungsverfahren bei einer Schlichtungsbehörde nach Schweizer Recht eingeleitet worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. August 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 2016, in dem Verfahren
Brigitte Schlömp
gegen
Landratsamt Schwäbisch Hall
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Schlömp, vertreten durch D. Adam, Rechtsanwalt,
- des Landratsamts Schwäbisch Hall, vertreten durch Rechtsanwalt D. Vollmer,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch M. Schöll und R. Rodriguez als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Oktober 2017,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 27 und 30 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss des Rates 2009/430/EG vom 27. November 2008 genehmigt wurde (ABl. 2009, L 147, S. 1, im Folgenden: Lugano-II-Übereinkommen).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Brigitte Schlömp und dem Landratsamt Schwäbisch Hall (Deutschland) (im Folgenden: Landratsamt). Gegenstand dieses Rechtsstreits ist ein von Frau Schlömp eingereichter negativer Feststellungsantrag wegen Unterhalts (im Folgenden: negativer Feststellungsantrag).
Rechtlicher Rahmen
Das Lugano-II-Übereinkommen
Rz. 3
In Titel II „Zuständigkeit”) Abschnitt 2 „Besondere Zuständigkeiten”) Art. 5 Abs. 2 des Lugano-II-Übereinkommens heißt es:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, kann in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat verklagt werden:
…
2. wenn es sich um eine Unterhaltssache handelt,
a) vor dem Gericht des Ortes, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, …”
Rz. 4
Titel II Abschnitt 9 „Rechtshängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren”) des Übereinkommens enthält dessen Art. 27 bis 30. Art. 27 lautet:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener durch dieses Übereinkommen gebundener Staaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.”
Rz. 5
Art. 30 des Übereinkommens bestimmt:
„Für die Zwecke dieses Abschnitts gilt ein Gericht als angerufen:
- zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist, vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken, oder
- falls die Zustellung an den Beklagten vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen.”
Rz. 6
Titel V „Allgemeine Vorschriften”) des Lugano-II-Übereinkommens enthält u. a. Art. 62, der bestimmt:
„Im Sinne dieses Übereinkommens umfasst ...