Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Erhöhung der Sicherheit von Personalausweisen der Bürger der Europäischen Union. Gültigkeit. Rechtsgrundlage. Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in das Speichermedium von Personalausweisen zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten aufzunehmen. Achtung des Privat- und Familienlebens. Schutz personenbezogener Daten. Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung. Aufrechterhaltung der zeitlichen Wirkungen einer für ungültig erklärten Verordnung
Normenkette
VO 1157/2019/EU; AEUV Art. 21 Abs. 2, Art. 77 Abs. 3; VO 1157/2019/EU Art. 3 Abs. 5; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7-8; EUVO 679/2016 Art. 35
Beteiligte
Landeshauptstadt Wiesbaden |
Landeshauptstadt Wiesbaden |
Tenor
1.Die Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, ist ungültig.
2.Die Wirkungen der Verordnung 2019/1157 werden aufrechterhalten, bis innerhalb einer angemessenen Frist, die zwei Jahre ab dem 1. Januar des auf die Verkündung des vorliegenden Urteils folgenden Jahres nicht überschreiten darf, eine neue, auf Art. 77 Abs. 3 AEUV gestützte Verordnung, die sie ersetzt, in Kraft tritt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-61/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2022, in dem Verfahren
RL
gegen
Landeshauptstadt Wiesbaden
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), T. von Danwitz, F. Biltgen und Z. Csehi sowie der Richter J.-C. Bonichot, S. Rodin, D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von RL, vertreten durch Rechtsanwalt W. Achelpöhler,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.-L. Krüger als Bevollmächtigte,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin und A. Van Baelen als Bevollmächtigte im Beistand von P. Wytinck, Advocaat,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – des Europäischen Parlaments, vertreten durch G. C. Bartram, P. López-Carceller und J. Rodrigues als Bevollmächtigte,
- – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. França und Z. Šustr als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg, E. Montaguti und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. Juni 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit der Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben (ABl. 2019, L 188, S. 67), und insbesondere ihres Art. 3 Abs. 5.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RL und der Landeshauptstadt Wiesbaden (Deutschland) (im Folgenden: Stadt Wiesbaden) über deren Ablehnung des Antrags von RL auf Ausstellung eines Personalausweises ohne Aufnahme seiner Fingerabdrücke.
I.Rechtlicher Rahmen
A.Unionsrecht
1.Verordnung 2019/1157
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 5, 17 bis 21, 23, 26 bis 29, 32, 33, 36, 40 bis 42 und 46 der Verordnung 2019/1157 heißt es:
„(1) Der [EU-Vertrag] sieht ausdrücklich vor, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit der Unionsbürger durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Maßgabe der Bestimmungen des [EU-Vertrags] und des [AEU-Vertrags] zu fördern.
(2) Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der [Europäischen] Union das Recht auf Freizügigkeit vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen. Mit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 7...