Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl. Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling. Verfolgungsgründe. ,Politische Überzeugung‘. Begriff. Im Aufnahmemitgliedstaat entwickelte politische Überzeugung. Prüfung der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen dieser politischen Überzeugung
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 10 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 2, Art. 4
Beteiligte
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Opinions politiques dans l’État membre d’accueil) |
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie |
Tenor
1.Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
es ausreicht, damit die Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung eines Antragstellers, der die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger in seinem Herkunftsland noch nicht erweckt hat, unter den Begriff „politische Überzeugung“ fallen kann, dass der Antragsteller geltend macht, er bringe diese Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zum Ausdruck oder habe sie zum Ausdruck gebracht. Dies greift der Bewertung, ob die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung wegen dieser politischen Überzeugung begründet ist, nicht vor.
2.Art. 4 Abs. 3 bis 5 der Richtlinie 2011/95
ist dahin auszulegen, dass
die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung begründet ist, berücksichtigen müssen, dass diese politische Überzeugung wegen des Maßes der Überzeugung, mit dem sie geäußert wird, oder wegen der vom Antragsteller eventuell ausgeübten Aktivitäten zur Förderung dieser Überzeugung die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger im Herkunftsland dieses Antragstellers erwecken kann oder erweckt haben konnte. Es wird jedoch nicht verlangt, dass eben diese Überzeugung beim Antragsteller so tief verwurzelt ist, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht davon absehen könnte, sie zu äußern und sich damit der Gefahr von Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 dieser Richtlinie auszusetzen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-151/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 16. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. März 2022, in dem Verfahren
S,
A
gegen
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie,
Beteiligter:
Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von S, vertreten durch M. M. J. van Zantvoort, advocate,
- – des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), vertreten durch C. J. Ullersma, advocate,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und F. Wilman als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, die erste zwischen S und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssecretaris) und die zweite zwischen A und dem Staatssecretaris wegen dessen Weigerung, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene...