Entscheidungsstichwort (Thema)

Unionsrecht. Grundsätze. Grundrechte. Durchführung des Unionsrechts. Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Begriff ‚sichere Staaten’. Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat. Verpflichtung. Widerlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte durch diesen Mitgliedstaat

 

Beteiligte

N. S

N. S

M. E

A. S. M

M. T

K. P

E. H

Secretary of State for the Home Department

Minister for Justice, Equality and Law Reform

Refugee Applications Commissioner

 

Tenor

1. Für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird mit der Entscheidung, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, darüber trifft, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, das Unionsrecht durchgeführt.

2. Das Unionsrecht steht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.

Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat” im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden

Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.

3. Die Art. 1, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union führen nicht zu einer anderen Antwort.

4. Soweit sich die vorstehend beantworteten Fragen in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland stellen, hat die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Republik Polen und das Vereinigte Königreich keinen Einfluss auf die Beantwortung der Fragen 2 bis 6 in der Rechtssache C-411/10.

 

Tatbestand

In den verbundenen Rechtssachen

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) und vom High Court (Irland) mit Entscheidungen vom 12. Juli und 11. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 18. August und 15. Oktober 2010, in den Verfahren

N. S. (C-411/10)

gegen

Secretary of State for the Home Department

und

M. E. (C-493/10),

A. S. M.,

M. T.,

K. P.,

E. H.

gegen

Refugee Applications Commissioner,

Minister for Justice, Equality and Law Reform,

Beteiligte:

Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) (C-411/10),

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (UK) (C-411/10),

Equality and Human Rights Commission (EHRC) (C-411/10),

Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (IRL) (C-493/10),

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (IRL) (C-493/10),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), M. Ilešič, T. von Danwitz und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader und des Richters J.-J. Kasel,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftl...

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