Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren. Recht, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu rügen. Nationale Regelung, die es dem Strafrichter des Hauptverfahrens verbietet, einen solchen Verstoß von Amts wegen zu prüfen

 

Normenkette

Richtlinie 2012/13/EU Art. 3-4, 8 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47-48

 

Beteiligte

K.B. und F.S. (Relevé d’office dans le domaine pénal)

Procureur de la République

K. B.

F. S.

 

Tenor

Die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren im Licht von Art. 47 und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es dem Tatrichter in einer Strafsache untersagt, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen einen Verstoß gegen die den zuständigen Behörden nach diesen Art. 3 und 4 obliegende Pflicht zu prüfen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, wenn diesen nicht die praktische und wirksame Möglichkeit genommen wurde, gemäß Art. 3 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe unter den in der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorgesehenen Voraussetzungen, und wenn sie ebenso wie gegebenenfalls ihr Rechtsanwalt das Recht hatten, Einsicht in ihre Akte zu nehmen und diesen Verstoß innerhalb einer angemessenen Frist gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu rügen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-660/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Strafgericht Villefranche-sur-Saône, Frankreich) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Oktober 2021, in dem Strafverfahren

Procureur de la République

gegen

K. B.,

F. S.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter S. Rodin, F. Biltgen und N. Piçarra, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        von K. B., vertreten durch C. Lallich und B. Thellier de Poncheville, Avocats,
  • –        von F. S., vertreten durch B. Thellier de Poncheville und S. Windey, Avocates,
  • –        der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
  • –        von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce, M. Lane und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von R. Farrell, SC, D. Fennelly, BL, und P. Gallagher, SC,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen K. B. und F. S. wegen Kraftstoffdiebstahls.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2012/13

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 3, 4, 10, 14, 19 und 36 der Richtlinie 2012/13 heißt es...

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