Leitsatz (amtlich)
1. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 169 des Vertrages hat einen anderen Gegenstand und andere Rechtsfolgen als ein Vorabentscheidungsverfahren. Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens ist nämlich die förmliche Feststellung, daß ein Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nicht erfuellt hat; diese Feststellung ist Voraussetzung für die etwaige Einleitung des Verfahrens nach Artikel 171 des Vertrages. Im übrigen ist die Kommission in Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages allein für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.
2. Nach Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten teilen die Mitgliedstaaten der Kommission den Wortlaut der innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen. Die insoweit den Mitgliedstaaten obliegende Pflicht erfasst alle einschlägigen Rechtsvorschriften und erlaubt es nicht, nach der bundes- oder einheitsstaatlichen Struktur der Mitgliedstaaten oder nach der von ihnen jeweils angewandten Gesetzestechnik zu differenzieren. Insbesondere steht es bei einem Bundesstaat der Feststellung eines Verstosses gegen die Mitteilungspflicht nicht entgegen, daß das der Kommission mitgeteilte Bundesgesetz den auf einer niedrigeren Ebene erlassenen nicht mitgeteilten Vorschriften vorgeht.
3. Ein Mitgliedstaat verstösst gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, wenn er die Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung nicht für alle Projekte vorsieht, die nach der Richtlinie einer solchen Prüfung zu unterziehen sind und für die das Genehmigungsverfahren nach dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie eingeleitet worden ist.
Die Zweckmässigkeit dieser Feststellung, die darauf beruht, daß der betreffende Mitgliedstaat eine einschlägige Rechtsvorschrift erlassen hat, entfällt nicht durch den Umstand, daß gegen denselben Mitgliedstaat auf demselben Gebiet bereits ein anderes Vertragsverletzungsurteil ergangen ist, wenn das frühere Urteil, in dem die Nichterfüllung der Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung in einem konkreten Fall der Durchführung eines bestimmten Projekts festgestellt wurde, einen anderen Gegenstand hatte.
4. Nach Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten werden Projekte der in Anhang II der Richtlinie aufgezählten Klassen einer Prüfung unterzogen, wenn ihre Merkmale nach Auffassung der Mitgliedstaaten dies erfordern; die Mitgliedstaaten können zu diesem Zweck bestimmte Arten von Projekten, die einer Prüfung zu unterziehen sind, bestimmen oder Kriterien und/oder Schwellenwerte aufstellen, anhand deren bestimmt werden kann, welche von den fraglichen Projekten einer Prüfung unterzogen werden sollen. Diese Bestimmung ist dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis verleiht, bei einer oder mehreren der fraglichen Klassen die Möglichkeit einer Prüfung vollständig und endgültig auszuschließen.
Der Begriff der Klassen bezieht sich insoweit nicht auf die zwölf in Anhang II aufgezählten Kategorien von Projekten, sondern auf alle in den verschiedenen mit Buchstaben bezeichneten Untergliederungen dieser Kategorien aufgeführten Projekte. Jede andere Auslegung würde den Grundsatz des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie, dass Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Grösse oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Prüfung in bezug auf ihre Auswirkungen zu unterziehen sind, praktisch ins Leere laufen lassen und es den Mitgliedstaaten gestatten, den Anhang II der Richtlinie nach Belieben anzuwenden.
Ein Mitgliedstaat verstösst daher gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Absatz 1 und 4 Absatz 2 der Richtlinie, wenn er nicht alle in Anhang II der Richtlinie aufgezählten Untergliederungen seinem Umsetzungsgesetz unterwirft und damit ganze Klassen von Projekten von vornherein von der Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt.
Normenkette
EG-Vertrag Art. 169, 171, 177; Richtlinie 85/337 Art. 12 Abs. 2, 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Absatz 1, 4 Absatz 2 und 12 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten verstossen, indem sie
- nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen;
- der Kommission nicht alle Maßnahmen mitgeteilt hat, die sie getroffen hat, ...