Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Verordnung (EG) Nr. 2201/2003. Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Kind nicht miteinander verheirateter Eltern. Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts eines Säuglings. Begriff des Sorgerechts
Beteiligte
Tenor
1. Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt” ist für die Zwecke der Art. 8 und 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dabei sind, wenn es sich um einen Säugling handelt, der in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wurde und der sich dort mit seiner Mutter erst seit einigen Tagen befindet, u. a. zum einen die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Mutter in diesen Staat zu berücksichtigen und zum anderen, insbesondere wegen des Alters des Kindes, die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen.
Falls die Anwendung der oben genannten Kriterien im Ausgangsverfahren zu dem Ergebnis führen sollte, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden kann, muss das zuständige Gericht anhand des Kriteriums der „Anwesenheit des Kindes” im Sinne von Art. 13 der Verordnung bestimmt werden.
2. Die Entscheidungen eines Gerichts eines Mitgliedstaats, mit denen ein Antrag auf sofortige Rückführung eines Kindes in den Zuständigkeitsbereich eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung abgelehnt wird und die die elterliche Verantwortung für dieses Kind betreffen, haben keine Auswirkungen auf die Entscheidungen, die in dem anderen Mitgliedstaat in zuvor eingeleiteten und dort noch anhängigen Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung zu treffen sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 8. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2010, in dem Verfahren
Barbara Mercredi
gegen
Richard Chaffe
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund des Beschlusses der Ersten Kammer vom 28. Oktober 2010, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Mercredi, vertreten durch M. Scott-Manderson, QC, M.-C. Sparrow, Barrister, und H. Newman, Solicitor,
- von Herrn Chaffe, vertreten durch H. Setright, QC, D. Williams, Barrister, und K. Gieve, Solicitor,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten im Beistand von H. Walker, Solicitor, und D. Beard, Barrister,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- von Irland, vertreten durch N. Travers, BL,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Vater, Herrn Chaffe, und der Mutter, Frau Mercredi, eines Mädchens wegen des Sorgerechts für dieses Kind, das sich derzeit mit seiner Mutter auf der Insel La Réunion (Frankreich) befindet.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
Rz. 3
Art. 1 des Haager Übereinkommens vom 25....