Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. An einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat. Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestelltes Ersuchen. Nur für eigene Staatsangehörige geltendes Auslieferungsverbot. Beschränkung der Freizügigkeit. Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 18, 21
Beteiligte
Generalstaatsanwaltschaft München |
Tenor
Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass
- sie einen Mitgliedstaat, an den von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gerichtet wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Europäischen Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, verpflichten, sich aktiv um diese Zustimmung des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats zu bemühen und dabei alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu diesem Drittstaat verfügt;
- sie, wird diese Zustimmung nicht erlangt, dem nicht entgegenstehen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat unter diesen Umständen den Unionsbürger im Einklang mit seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, sofern durch diese Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht München (Deutschland) mit Beschluss vom 9. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2021, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von
S.M.,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft München,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele, des Richters J. Passer und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Generalstaatsanwaltschaft München, vertreten durch J. Ettenhofer und F. Halabi als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
- der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und R. Dzikovič als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Baumgart, S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 21 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Auslieferungsersuchens der bosnisch-herzegowinischen Behörden an die Behörden der Bundesrepublik Deutschland betreffend S.M., der die kroatische, die bosnisch-herzegowinische und die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.
Rechtlicher Rahmen
Europäisches Auslieferungsübereinkommen
Rz. 3
Art. 1 des am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:
„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.”
Rz. 4
Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger”) dieses Übereinkommens sieht vor:
„1 a Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
b Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige’ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.
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