Entscheidungsstichwort (Thema)
Freizügigkeit. Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Ehegatte eines Angehörigen eines Mitgliedstaats ist, und ihrer Kinder, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind. Beendigung der unselbständigen Tätigkeit des Angehörigen eines Mitgliedstaats und anschließende Ausreise aus dem Aufnahmemitgliedstaat. Einschreibung der Kinder in einer Bildungseinrichtung. Fehlen von Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Verordnung (EWG) Nr. 1612/68. Art. 12. Richtlinie 2004/38/EG
Beteiligte
Secretary of State for the Home Department |
Tenor
Unter den Umständen des Ausgangsverfahrens steht den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt ist oder gewesen ist, und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat auf der Grundlage allein von Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 geänderten Fassung zu, ohne dass dieses Recht davon abhängig ist, dass sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 21. April 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juli 2008, in dem Verfahren
London Borough of Harrow
gegen
Nimco Hassan Ibrahim,
Secretary of State for the Home Department
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin P. Lindh sowie der Richter C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Schiemann, P. Kūris, E. Juhász, L. Bay Larsen, T. von Danwitz und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. September 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des London Borough of Harrow, vertreten durch K. Rutledge, Barrister,
- von Frau Ibrahim, vertreten durch N. Rogers, Barrister, beauftragt durch S. Morshead, Solicitor,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Jackson als Bevollmächtigte im Beistand von C. Lewis, QC,
- der dänischen Regierung, vertreten durch R. Holdgaard als Bevollmächtigten,
- von Irland, vertreten durch D. O'Hagan und B. O'Moore als Bevollmächtigte im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Maidani und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
- der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch N. Fenger, F. Simonetti und I. Hauger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1612/68) und der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28).
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem London Borough of Harrow (Gemeinde Harrow in London) einerseits und Frau Ibrahim sowie dem Secretary of State for the Home Department andererseits wegen der Ablehnung des Antrags von Frau Ibrahim auf Gewährung von Wohnhilfe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1612/68 lautet:
„Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, muss sich die Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis und mit der Beschaffung einer Wohnung im Zusammenhang steht; ferner müssen alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellen, insbesondere in Bezug auf das Recht des Arbeitnehmers, seine Familie nachkommen zu lassen, ...