Entscheidungsstichwort (Thema)

Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen. Grundsatz ne bis in idem. Ausnahme von der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem. Gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentliche Interessen gerichtete Straftat. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Vereinbarkeit von nationalen Erklärungen, die eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem vorsehen. Kriminelle Vereinigung. Vermögensdelikte

 

Normenkette

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 54, 55 Abs. 1 Buchst. b, Art. 50, 52 Abs. 1

 

Beteiligte

Generalstaatsanwaltschaft Bamberg (Exception au principe ne bis in idem)

MR

Generalstaatsanwaltschaft Bamberg

 

Tenor

1.Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.

2.Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 dieses Übereinkommens abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 des Übereinkommens gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat, sofern die Strafverfolgung in Anbetracht der Handlungen dieser Vereinigung Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen ahnden soll.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-365/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen

MR

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft Bamberg

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • – von MR, vertreten durch Rechtsanwälte S. Buhlmann und F. Ufer,
  • – der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg, vertreten durch N. Goldbeck als Bevollmächtigten,
  • – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, F. Halabi, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
  • – der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
  • – der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Augustin, A. Posch, J. Schmoll und K. Steininger als Bevollmächtigte,
  • – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnet wurde und am 26. März 1995 in Kraft getreten ist (im Folgenden: SDÜ), im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie zum anderen die Auslegung der Art. 54 und 55 SDÜ sowie der Art. 50 und 52 der Charta.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Deutschland wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anlagebetrugs gegen MR eingeleitet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SDÜ

Rz. 3

Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen.

Rz. 4

Die Art. 54 bis 56 des Durchführungsübereinkommens finden sich in Kapitel 3 („Verbot der Doppelbes...

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