Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Insolvenzverfahren. Internationale Zuständigkeit. Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in einen anderen Mitgliedstaat nach der Stellung eines Antrags auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens
Normenkette
EUV 2015/848 Art. 3 Abs. 1
Beteiligte
Hauck Aufhäuser Fund Services SA |
Tenor
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Infolgedessen kann sich, soweit diese Verordnung auf diesen Antrag anwendbar bleibt, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das später mit einem Antrag mit demselben Ziel befasst wird, grundsätzlich nicht für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens für zuständig erklären, solange das erste Gericht nicht entschieden und seine Zuständigkeit nicht verneint hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Dezember 2020, in dem Verfahren
Galapagos BidCo. Sàrl
gegen
DE in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Galapagos SA,
Hauck Aufhäuser Fund Services SA,
Prime Capital SA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), M. Ilešič, D. Gratsias und Z. Csehi,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Galapagos BidCo. Sàrl, vertreten durch Rechtsanwalt W. Nassall,
- des DE in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Galapagos SA, vertreten durch Rechtsanwalt C. van de Sande,
- der Hauck Aufhäuser Fund Services SA und der Prime Capital SA, vertreten durch Rechtsanwalt R. Hall,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Bartl als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und S. Noë als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Galapagos BidCo. Sàrl gegen DE in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Galapagos SA sowie gegen die Hauck Aufhäuser Fund Services SA und die Prime Capital SA wegen eines Antrags auf Eröffnung eines Galapagos betreffenden Insolvenzverfahrens führt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Austrittsabkommen
Rz. 3
In Art. 67 Abs. 3 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) (im Folgenden: Austrittsabkommen) heißt es:
„Im Vereinigten Königreich [Großbritannien und Nordirland] sowie in den Mitgliedstaaten finden in Fällen, die einen Bezug zum Vereinigten Königreich aufweisen, die nachstehenden Bestimmungen wie folgt Anwendung:
…
c) die Verordnung … 2015/848 … findet Anwendung auf die in Artikel 6 Absatz 1 dieser Verordnung genannten Insolvenzverfahren und -klagen, sofern das Hauptverfahren vor dem Ablauf der Übergangszeit eingeleitet wurde;
…”
Rz. 4
Art. 126 des Austrittsabkommens bestimmt:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.”
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000
Rz. 5
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1), die durch die Verordnung 2015/848 aufgehoben wurde, lautete:
„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.”
Verordnung 2015/848
Rz. 6
In den Erwägungsgründen 1, 3, 5, 8, 23, 27, 29, 33 und 65 der Verordnung 2015/848 heißt es:
„(1) Die [Europäische] Kommission hat am 12. Dezember 2012 einen Bericht über die Anwendung der Verordnung … Nr. 1346/2000 … angenommen. Dem Bericht zufolge funktioniert die Verordnung im Allgemeinen gut, doch so...