Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Asylpolitik. Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz. Gefahr eines ernsthaften Schadens für die psychische Gesundheit des Antragstellers bei Rückkehr in sein Herkunftsland. Person, die in ihrem Herkunftsland gefoltert wurde
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 4; Richtlinie 2004/83/EG Art. 2 Buchst. e, Art. 15 Buchst. b
Beteiligte
Secretary of State for the Home Department |
Tenor
Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der in der Vergangenheit von den Behörden seines Herkunftslands gefoltert wurde und bei der Rückkehr in dieses Land nicht mehr der Gefahr einer Folter ausgesetzt ist, aber dessen physischer und psychischer Gesundheitszustand sich in einem solchen Fall erheblich verschlechtern könnte, wobei die Gefahr besteht, dass er aufgrund eines auf den ihm zugefügten Folterhandlungen beruhenden Traumas Suizid begeht, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in Betracht kommt, sofern eine tatsächliche Gefahr besteht, dass ihm in diesem Land eine angemessene Behandlung der physischen oder psychischen Folgeschäden dieser Folterhandlungen vorsätzlich vorenthalten wird; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit Entscheidung vom 22. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2016, in dem Verfahren
MP
gegen
Secretary of State for the Home Department
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, E. Levits und C. Vajda, der Richter E. Juhász und A. Borg Barthet, der Richterinnen M. Berger und K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und M. Vilaras,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MP, vertreten durch A. Mackenzie und T. Tridimas, Barristers, A. Gananathan, Solicitor, und R. Husain, QC,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von B. Lask, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Oktober 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MP und dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister, Vereinigtes Königreich) wegen der Ablehnung seines Asylantrags.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
EMRK
Rz. 3
Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.”
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Rz. 4
Nach seinem sechsten Erwägungsgrund soll das am 10. Dezember 1984 in New York angenommene Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (im Folgenden: Antifolterkonvention) „dem Kampf gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe in der ganzen Welt größere Wirksamkeit … verleihen”.
Rz. 5
Art. 2 Abs. 1 und 2 dieses Übereinkommens bestimmt:
„(1) Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern.
(2) Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.”
Rz. 6
Art. 3 des Übereinkommens sieht vor:
„(1) Ein Vertragsstaat darf ein...