Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Achtung des Privat- und Familienlebens. Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung. Prüfung der Tatsachen und Umstände. Einholung eines Gutachtens. Psychologische Tests

 

Normenkette

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7; Richtlinie 2011/95/EU Art. 4

 

Beteiligte

F

Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal

 

Tenor

1. Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er der für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständigen Behörde oder den Gerichten, bei denen gegebenenfalls eine Klage gegen eine Entscheidung dieser Behörde anhängig ist, nicht untersagt, im Rahmen der Prüfung der Tatsachen und Umstände, die sich auf die behauptete sexuelle Orientierung eines Antragstellers beziehen, ein Gutachten in Auftrag zu geben, soweit die Modalitäten eines solchen Gutachtens in Einklang mit den in der Charta garantierten Grundrechten stehen, die Behörde und die Gerichte ihre Entscheidung nicht allein auf die Ergebnisse des Gutachtens stützen und sie bei der Bewertung der Aussagen des Antragstellers zu seiner sexuellen Orientierung nicht an diese Ergebnisse gebunden sind.

2. Art. 4 der Richtlinie 2011/95 ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass er es untersagt, zur Beurteilung der Frage, ob die behauptete sexuelle Orientierung einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person tatsächlich besteht, ein psychologisches Gutachten wie das im Ausgangsverfahren streitige zu erstellen und heranzuziehen, das auf der Grundlage eines projektiven Persönlichkeitstests die sexuelle Orientierung dieser Person abbilden soll.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidung vom 8. August 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 29. August 2016, in dem Verfahren

F

gegen

Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: R. Seres, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von F, vertreten durch T. Fazekas und Z. B. Barcza-Szabó, ügyvédek,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
  • der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. de Moustier und E. Armoët als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Gijzen und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und A. Tokár als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Oktober 2017

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen F, einem nigerianischen Staatsangehörigen, und dem Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal (Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft, Ungarn, im Folgenden: Amt) über die Entscheidung, mit der der Asylantrag von F abgewiesen und festgestellt wurde, dass seiner Abschiebung kein Hindernis entgegenstehe.

Rechtlicher Rahmen

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Rz. 3

Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sieht in Art. 8 Abs. 1 vor:

„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.”

Unionsrecht

Richtlinie 2005/85/EG

Rz. 4

Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13, berichtigt im ABl. 2006, L 236, S. 35) lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruc...

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