Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Vollstreckungsvoraussetzungen. Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung. Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat. Umfang der Prüfung durch die vollstreckenden Justizbehörden. Bestehen einer Rechtsschutzmöglichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat. Von den Behörden dieses Mitgliedstaats erteilte Zusicherung
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 4
Beteiligte
Generalstaatsanwaltschaft (Conditions de détention en Hongrie) |
Tenor
Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass, wenn die vollstreckende Justizbehörde über Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, deren Richtigkeit das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer aktualisierter Angaben zu überprüfen hat,
- die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfährt, nicht allein aus dem Grund ausschließen kann, dass dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, die es ihr ermöglicht, ihre Haftbedingungen in Frage zu stellen, wenngleich diese Behörde das Bestehen einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit bei der Entscheidung über die Übergabe der betroffenen Person berücksichtigen kann;
- die vollstreckende Justizbehörde nur die Haftbedingungen in den Haftanstalten prüfen muss, in denen die genannte Person nach den dieser Behörde vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, inhaftiert sein wird;
- die vollstreckende Justizbehörde dazu nur die konkreten und genauen Haftbedingungen der betroffenen Person prüfen muss, die relevant sind, um zu bestimmen, ob diese einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird;
- die vollstreckende Justizbehörde Informationen berücksichtigen kann, die von anderen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats als der ausstellenden Justizbehörde erteilt worden sind, wie namentlich die Zusicherung, dass die betroffene Person keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in einem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
ML,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Bremen,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von ML, vertreten durch Rechtsanwalt A. Jung,
- der Generalstaatsanwaltschaft Bremen, vertreten durch Oberstaatsanwalt M. Glasbrenner,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und A. Honhon, als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch G. Mullan, BL,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Tornyai und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer als Bevollmächtigten,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und C.-M. Florescu als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juli 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 1 Abs. ...