Entscheidungsstichwort (Thema)
Erheblichkeit der erbetenen Information, Bestimmtheit des Steuerpflichtigen, auf den sich das Ersuchen bezieht, Sanktion gegen den Steuerpflichtigen wegen Nichtbefolgung einer Anordnung
Normenkette
EURL 16/2011 Art. 1 Abs. 1; EU-Grundrechte-Charta Art. 47; EURL 16/2011 Art. 20 Abs. 2, Art. 5
Beteiligte
Verfahrensgang
Cour administrative de Luxembourg (Luxemburg) (Beschluss vom 23.05.2019; ABl. EU 2019, Nr. C 270/23) |
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG sind dahin auszulegen, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist.
2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine Informationen besitzende Person,
- gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und
- die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat,
nach der endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser gegen sie ergangenen Entscheidungen die Möglichkeit erhalten muss, der Anordnung zur Übermittlung von Informationen innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 23. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2019, in dem Verfahren
État luxembourgeois
gegen
L
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- von L, vertreten durch F. Trevisan und P. Mellina, avocats,
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz, T. Uri und A. Germeaux als Bevollmächtigte,
- von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von S. Horan, BL,
- der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis, M. Tassopoulou und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten zunächst durch A.-L. Desjonquères und C. Mosser, dann durch A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten zunächst durch W. Roels und N. Gossement, dann durch W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Juni 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl....