Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Einwanderungspolitik. Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht. Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Unmittelbare Wirkung. Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines minderjährigen Unionsbürgers ist. Gefahr für die nationale Sicherheit. Nichtberücksichtigung der individuellen Situation dieses Drittstaatsangehörigen. Weigerung, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Wirkungen des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt werden. Folgen
Normenkette
AEUV Art. 20; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; Richtlinie 2008/115/EG Art. 5, 11, 13
Beteiligte
M.D. (Interdiction d’entrée en Hongrie) |
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága |
Tenor
1.Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürgerde factozwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen.
2.Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
ist dahin auszulegen, dass
er dem entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung hätte ergehen müssen, unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung, mit der ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats entzogen wurde, aus denselben Gründen ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union erlassen wird, ohne dass zuvor sein Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden wären.
3.Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass
ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist und die nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, diese Regelung unangewendet lassen muss, soweit sie gegen diese Bestimmung verstößt, und, wenn dies zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmung erforderlich ist, diese unmittelbar auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwenden muss.
4.Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das Schengener Informationssystem eingegeben worden sei.
Tatbestand
In der Rechtssache C-528/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 19. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. August 2021, in dem Verfahren
M. D.
gegen
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richterin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte im Beistand von K. A. Jáger als Sachverständigen,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, A. Katsimerou, E. Montaguti, Zs. Teleki und A. Tokár, als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwal...