Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Art. 43 EG und 49 EG. Richtlinie 92/49/EWG. Nationale Regelung, die den Versicherungsunternehmen einen Kontrahierungszwang auferlegt. Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs. Sozialer Schutz von Verkehrsunfallopfern. Verhältnismäßigkeit. Tariffreiheit von Versicherungsunternehmen. Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Italienische Republik und die Republik Finnland tragen ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 20. Dezember 2006,
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und N. Yerrell als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von M. Fiorilli, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
unterstützt durch
Republik Finnland, vertreten durch J. Himmanen als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts und M. ilešič (Berichterstatter) sowie der Richter A. Tizzano, A. Borg Barthet, J. Malenovský, J. Klučka, U. Lõhmus, E. Levits und J.-J. Kasel,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Mai 2008,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. September 2008
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik
- durch Erlass und Aufrechterhaltung einer Regelung, nach der die Prämien für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nach bestimmten Parametern berechnet werden müssen, und dadurch, dass sie diese Prämien einer rückwirkenden Kontrolle unterworfen hat, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 6, 29 und 39 der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) (ABl. L 228, S. 1) verstoßen hat;
- dadurch, dass sie eine Kontrolle über die Modalitäten ausübt, nach denen die Versicherungsunternehmen mit Hauptsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die aber in Italien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit tätig sind, ihre Versicherungsprämien berechnen, und dass sie insbesondere gegen diese Unternehmen Sanktionen für den Fall eines Verstoßes gegen die nationalen Vorschriften zu den Modalitäten für die Berechnung von Versicherungsprämien verhängt, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 9 der Richtlinie 92/49 verstoßen hat;
- dadurch, dass sie die Verpflichtung zum Abschluss von Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungen für alle Versicherungsunternehmen aufrechterhält, einschließlich der Versicherungsunternehmen mit Hauptsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die aber in Italien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit tätig sind, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 49 EG verstoßen hat.
I – Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Die Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG und 2005/14/EG
Rz. 2
Zur Erleichterung des Reiseverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten wurde mit der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1) ein System geschaffen, das auf der Abschaffung der Kontrolle der grünen Versicherungskarte bei Überschreitung der Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft und auf der Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten beruht, sicherzustellen, dass die Kraftfahrzeug-Haftpflicht durch eine Versicherung gedeckt ist.
Rz. 3
Im zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Jede Grenzkontrolle der Pflicht zur Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bezweckt die Wahrung der Interessen von Personen, die möglicherweise bei einem Unfall, der von diesen Fahrzeugen verursacht wird, geschädigt werden …”
Rz. 4
Der siebte Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:
„Die Kontrolle der grünen Karte kann bei Fahrzeugen, die ihren gewöhnlichen Standort in einem Mitgliedstaat haben und die in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats einreisen, auf der Grundlage eines Übereinkommens zwischen den … nationalen Versicherungsbüros aufgehoben werden, kraft deren jedes nationale Büro ...