Entscheidungsstichwort (Thema)
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Richtlinie 2008/115/EG. Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Art. 15 und 16. Nationale Regelung, die eine Haftstrafe für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige vorsieht, die sich weigern, eine Anordnung zum Verlassen des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats zu befolgen. Vereinbarkeit
Beteiligte
Hassen El Dridi, alias Soufi Karim |
Tenor
Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere ihre Art. 15 und 16, ist dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d'appello di Trento (Italien) mit Entscheidung vom 2. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2011, in dem Strafverfahren gegen
Hassen El Dridi, alias Soufi Karim
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter J.-J. Kasel, M. Ilešič (Berichterstatter), E. Levits und M. Safjan,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 2. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2011 und ergänzt am 11. Februar 2011, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 17. Februar 2011, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn El Dridi, vertreten durch M. Pisani und L. Masera, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D'Ascia, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und L. Prete als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 15 und 16 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines gegen Herrn El Dridi eingeleiteten Verfahrens, der zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt wurde, weil er ohne berechtigten Grund unter Verstoß gegen eine ihm gegenüber ergangene Abschiebungsanordnung des Questore di Udine (Polizeichef von Udine) illegal im italienischen Hoheitsgebiet geblieben sei.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2, 6, 13, 16 und 17 der Richtlinie 2008/115 lauten:
„(2) Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(6) Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. …
…
(13) Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. …
…
(16) Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.
(17) In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.”
Rz. 4
Art. 1 („Gegenstand”) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:
„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ...