Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Steuerbemessungsgrundlage. Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage. Vollständige oder teilweise Nichtzahlung des Preises. Ausschlussfrist für die Beantragung der nachträglichen Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage. Beginn der Ausschlussfrist. Zinsanspruch des Steuerpflichtigen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 90, 90 Abs. 1, Art. 273
Beteiligte
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite |
Verfahrensgang
Varhoven administrativen sad (Bulgarien) (Beschluss vom 04.05.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 303/14) |
Tenor
1. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wonach für die Stellung eines Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer, der darauf beruht, dass im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vermindert wird, eine Ausschlussfrist gilt, deren Ablauf dazu führt, dass dem nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen eine Sanktion auferlegt wird – nicht entgegensteht, sofern diese Frist erst ab dem Zeitpunkt läuft, zu dem der Steuerpflichtige ohne Mangel an Sorgfalt sein Recht auf Verminderung geltend machen kann. Gibt es keine nationalen Vorschriften über die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts, muss der Beginn einer solchen Ausschlussfrist für den Steuerpflichtigen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellbar sein.
2. Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sind in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie, wenn es keine spezifischen nationalen Vorschriften gibt, dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung davon abhängig macht, dass dieser Steuerpflichtige zuvor die ursprüngliche Rechnung berichtigt und dem Schuldner im Voraus seine Absicht mitteilt, die Mehrwertsteuer zu annullieren, sofern es dem Steuerpflichtigen unmöglich ist, eine solche Berichtigung rechtzeitig vorzunehmen, und ihm diese Unmöglichkeit nicht zuzurechnen ist.
3. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass ein etwaiges Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung einen Anspruch auf Erstattung der von ihm gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet und dass, wenn die Regelung eines Mitgliedstaats keine Modalitäten für die Anwendung der möglicherweise geschuldeten Zinsen enthält, diese Zinsen ab dem Zeitpunkt berechnet werden, ab dem der Steuerpflichtige sein Recht auf diese Verminderung im Rahmen der Steuererklärung, die sich auf den dann laufenden Besteuerungszeitraum bezieht, geltend macht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 4. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2022, in dem Verfahren
„Consortium Remi Group” AD
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič und D. Gratsias,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch M. Koleva und S. Petkov,
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Drambozova und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. September 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft insbesondere die Auslegung von Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Consortium Remi Group” AD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-o...