Entscheidungsstichwort (Thema)
Diskriminierungsverbot, Rechtsmissbrauch, automatische Einstellung von Finanzgerichtsverfahren wegen langer Prozessdauer
Leitsatz (amtlich)
Das Unionsrecht, insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot, die Vorschriften über staatliche Beihilfen und die Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, ist dahin auszulegen, dass es in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren wie dem Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die die Einstellung der bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Normenkette
AEUV Art. 4 Abs. 3
Beteiligte
Ministero dell Economia e delle Finanze |
Verfahrensgang
Corte Suprema di Cassazione (Italien) (Urteil vom 27.05.2010; ABl. EU 2010, Nr. C 288/23) |
Tatbestand
„Direkte Besteuerung ‐ Einstellung von bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren ‐ Rechtsmissbrauch ‐ Art. 4 Abs. 3 EUV ‐ Vom Vertrag garantierte Freiheiten ‐ Diskriminierungsverbot ‐ Staatliche Beihilfen ‐ Verpflichtung, eine wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten“
In der Rechtssache C-417/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 27. Mai 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 23. August 2010, in dem Verfahren
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Agenzia delle Entrate
gegen
3M Italia SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der 3M Italia SpA, vertreten durch G. Iannotta, avvocato,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
‐ von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Traversa und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts auf dem Gebiet der direkten Besteuerung.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministero dell’Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen) und der Agenzia delle Entrate (Agentur für Steuern und Abgaben) einerseits und der 3M Italia SpA (im Folgenden: 3M Italia) andererseits wegen der Besteuerung der von dieser Gesellschaft für die Jahre 1989 bis 1991 ausgeschütteten Dividenden.
Rahmen des nationalen Rechts
Rz. 3
Art. 3 Abs. 2bis des Decreto-legge Nr. 40/2010 (GURI Nr. 71 vom 26. März 2010), das mit Änderungen in das Gesetz Nr. 73/2010 (GURI Nr. 120 vom 25. Mai 2010) umgewandelt wurde (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 40/2010), lautet:
„Um die Dauer gerichtlicher Verfahren in Steuersachen innerhalb der Grenzen einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten und] durch das Gesetz Nr. 848 vom 4. August 1955 ratifizierten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] zu halten, werden in Anbetracht der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK anhängige Streitverfahren in Steuersachen, die auf Klagen zurückgehen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes, mit dem das vorliegende Decreto-legge in ein Gesetz umgewandelt wird, seit mehr als zehn Jahren im Register der ersten Instanz eingetragen sind, und in denen die Finanzverwaltung in den beiden ersten Rechtszügen unterlegen ist, wie folgt eingestellt:
…
b) bei der Corte suprema di cassazione anhängige Streitverfahren in Steuersachen können gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts … und gleichzeitigen Verzicht auf jeglichen Anspruch auf eine billige Entschädigung im Sinne des Gesetzes Nr. 89 vom 24. März 2001 eingestellt werden. Hierzu kann der Steuerpflichtige innerhalb von neunzig Tagen ab Inkrafttreten des Gesetzes zur Umwandlung des vorliegenden Decreto-legge einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Geschäftsstelle oder Kanzlei stellen, d...