Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich. Türkischer Staatsangehöriger. Aufenthaltserlaubnis. Familienzusammenführung. Trennung der Partner. Widerruf der Aufenthaltserlaubnis. Rückwirkung
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie |
Tenor
Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass er die zuständigen nationalen Behörden daran hindert, die Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Arbeitnehmers rückwirkend auf den Zeitpunkt zu widerrufen, von dem an der im nationalen Recht vorgesehene Grund für ihre Erteilung nicht mehr besteht, wenn der Arbeitnehmer keine Täuschung begangen hat und der Widerruf nach Ablauf des in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten Zeitraums von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung erfolgt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 13. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 16. April 2010, in dem Verfahren
Baris Unal
gegen
Staatssecretaris van Justitie
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), der Richter A. Arabadjiev, A. Rosas und M. Lõhmus sowie der Richterin P. Lindh,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Unal, vertreten durch A. H. Hekman und B. Mor-Yazir, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Ree als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Rozet und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 21. Juli 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685, im Folgenden: Assoziierungsabkommen) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem türkischen Staatsangehörigen B. Unal und dem Staatssecretaris van Justitie (Staatssekretär der Justiz, im Folgenden: Staatssecretaris) über die Entscheidungen des Letzteren, den Antrag von Herrn Unal auf Änderung der mit seiner befristeten Aufenthaltserlaubnis verbundenen Auflage abzulehnen und diese Erlaubnis zu widerrufen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Rz. 3
Gemäß seinem Art. 2 Abs. 1 ist Ziel des Assoziierungsabkommens, durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien, u. a. im Bereich der Arbeitskräfte, zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Republik Türkei zur Europäischen Gemeinschaft zu erleichtern.
Rz. 4
Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 hat folgenden Wortlaut:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.”
Rz. 5
Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt, dass die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erh...