Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmereigenschaft, Einrichtung des öffentlichen Rechts, Organisationseinheit einer Gemeinde als Unternehmer, Merkmal der Selbstständigkeit
Leitsatz (amtlich)
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden haushaltsgebundenen Einrichtungen einer Gemeinde nicht als Mehrwertsteuerpflichtige angesehen werden können, da sie das in dieser Bestimmung vorgesehene Kriterium der Selbständigkeit nicht erfüllen.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 10.12.2013; ABl. EU 2014, Nr. C 303/16) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 9 Abs. 1 ‐ Art. 13 Abs. 1 ‐ Steuerpflichtige ‐ Auslegung des Begriffs ,selbständig ‐ Einrichtung einer Gemeinde ‐ Wirtschaftliche Tätigkeiten einer Organisationseinheit der Gemeinde, die ihr nicht im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen ‐ Möglichkeit, eine solche Einheit als steuerpflichtig im Sinne der Richtlinie 2006/112 anzusehen ‐ Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 3 EUV“
In der Rechtssache C-276/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Hauptverwaltungsgericht) (Polen) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juni 2014, in dem Verfahren
Gmina Wrocław
gegen
Minister Finansów
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und C. Vajda, der Richter E. Levits, A. Arabadjiev und M. Safjan, der Richterin A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Mai 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Gmina Wrocław, vertreten durch L. Mazur, K. Sachs, A. Błędowski und A. Januszkiewicz als Steuerberater,
‐ des Minister Finansów, vertreten durch J. Kaute und T. Tratkiewicz als Bevollmächtigte,
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und I. Kotsoni als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Juni 2015
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gmina Wrocław (Gemeinde Wrocław [Breslau], Polen) und dem Minister Finansów (Finanzminister, im Folgenden: Minister) betreffend die Möglichkeit, eine haushaltsgebundene Einrichtung der Gemeinde als mehrwertsteuerpflichtig anzusehen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Mehrwertsteuerrichtlinie hat mit Wirkung ab dem 1. Januar 2007 die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) aufgehoben und ersetzt. Nach dem ersten und dem dritten Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um durch eine Überarbeitung von Struktur und sprachlicher Fassung, jedoch grundsätzlich ohne Änderung des Inhalts, für Klarheit und Wirtschaftlichkeit sämtlicher anwendbaren Bestimmungen zu sorgen.
Rz. 4
Der 65. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Da die Ziele dieser Richtlinie aus den dargelegten Gründen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das zum Erreichen dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.“
Rz. 5
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie, der im Wesentlichen den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 bis 3 der Sechsten Richtlinie aufgreift, bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Hä...