Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Familienzusammenführung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades. Begriff ,unbegleiteter Minderjähriger‘. Zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriger Zusammenführender, der aber während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig geworden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit. Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung. Volljährige Schwester des Zusammenführenden, die aufgrund einer schweren Krankheit die dauerhafte Unterstützung ihrer Eltern benötigt. Praktische Wirksamkeit des Rechts eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung. Möglichkeit, die Familienzusammenführung von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig zu machen
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Buchst. a, Art. 2 Buchst. f., Art. 7 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1, Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3
Beteiligte
Landeshauptmann von Wien (Regroupement familial avec un mineur réfugié) |
Tenor
1.Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass die Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wenn dieser zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist und im Laufe des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird, nach dieser Bestimmung nicht dazu verpflichtet sind, den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem Flüchtling innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen, um das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung stützen und die darin vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.
2.Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass danach der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die Staatsangehörige eines Drittstaats ist und aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn die Weigerung, diesen Aufenthaltstitel zu erteilen, dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades genommen würde.
3.Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verlangen kann, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling oder seine Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen, damit dieser das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in Anspruch nehmen kann, und zwar unabhängig davon, ob der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist gestellt wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache C-560/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Beschluss vom 25. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Oktober 2020, in dem Verfahren
CR,
GF,
TY
gegen
Landeshauptmann von Wien
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič und J.-C. Bonichot, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen, N. Wahl und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von CR, GF und TY, vertreten durch Rechtsanwältin J. Ecker und D. Bernhart, Teamleitung Familienzusammenführung beim Generalsekretariat des österreichischen Roten Kreuzes,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll, C. Schweda und V.-S. Strasser als Bevollmächtigte,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, J. Hottiaux und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f, Art. 7 Abs. 1, Art. 10 Abs. 3 B...