Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersuchen um Vorabentscheidung: Arbeitsgericht Reutlingen (Deutschland). Staatliche Beihilfen: Begriff, Befreiung von Kleinbetrieben von einer nationalen Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer, Vergünstigung, die ohne Übertragung öffentlicher Mittel gewährt wird, Ausschluß (EWG-Vertrag, Artikel 92 Absatz 1). Sozialpolitik: Männliche und weibliche Arbeitnehmer, Zugang zur Beschäftigung und Arbeitsbedingungen, Gleichbehandlung, Nationale Regelung, die Unternehmen mit kleiner Belegschaft von der Kündigungsschutzregelung befreit, Belegschaft, bei deren Berechnung Teilzeitbeschäftigte nicht berücksichtigt werden, Zulässigkeit bei Fehlen des Nachweises, daß in den befreiten Unternehmen erheblich mehr Frauen beschäftigt werden, und unter Berücksichtigung der verfolgten wirtschaftlichen Zwecke (Richtlinie 76/207 des Rates, Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1)
Leitsatz (amtlich)
1. Die Befreiung von Kleinbetrieben von einer nationalen Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer, die bewirkt, daß diese nicht verpflichtet sind, bei sozial ungerechtfertigten Kündigungen Abfindungen zu zahlen oder Prozeßkosten zu tragen, die bei Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Kündigung von Arbeitnehmern entstehen, stellt keine Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag dar.
Eine solche Maßnahme stellt nämlich keine unmittelbare oder mittelbare Übertragung staatlicher Mittel auf diese Unternehmen dar; sie ist lediglich Ausdruck des Willens des Gesetzgebers, für die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Kleinbetrieben einen besonderen rechtlichen Rahmen zu erstellen und zu verhindern, daß diesen finanzielle Lasten auferlegt werden, die ihre Entwicklung behindern können.
2. Der Grundsatz der Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer hinsichtlich der Entlassungsbedingungen im Sinne der Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 steht der Anwendung einer nationalen Bestimmung nicht entgegen, die bei der Feststellung, ob ein Unternehmen der Kündigungsschutzregelung unterliegt, Arbeitnehmer nicht berücksichtigt, die wöchentlich 10 Stunden oder monatlich 45 Stunden oder weniger arbeiten, wenn nicht nachgewiesen ist, daß die der Regelung nicht unterliegenden Unternehmen erheblich mehr Frauen als Männer beschäftigen. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte eine solche Regelung durch objektive Faktoren gerechtfertigt sein, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, soweit sie die den kleinen Unternehmen auferlegten Lasten erleichtern soll.
Normenkette
EWGVtr Art. 92 Abs. 1; Richtlinie 76/207 des Rates Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
1) Die Befreiung von Kleinbetrieben von einer nationalen Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer stellt keine Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EWG-Vertrag dar.
2) Der Grundsatz der Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer hinsichtlich der Entlassungsbedingungen im Sinne der Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 3. Februar 1976 steht der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie § 23 Absatz 1 Satz 3 des Kündigungsschutzgesetzes vom 25. August 1969 nicht entgegen, die bei der Feststellung, ob ein Unternehmen der Kündigungsschutzregelung unterliegt, Arbeitnehmer nicht berücksichtigt, die wöchentlich 10 Stunden oder monatlich 45 Stunden oder weniger arbeiten, wenn nicht nachgewiesen ist, daß die der Regelung nicht unterliegenden Unternehmen erheblich mehr Frauen als Männer beschäftigen. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte eine solche Regelung durch objektive Faktoren gerechtfertigt sein, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, soweit sie die den kleinen Unternehmen auferlegten Lasten erleichtern soll.
Gründe
1 Das Arbeitsgericht Reutlingen hat mit Beschluß vom 3. Mai 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Juli 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 92 EWG-Vertrag sowie der Artikel 2 und 5 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen P. K.-H.(Klägerin) und ihrer Arbeitgeberin, N. S. (Beklagte).
3 Nach den Akten war die Klägerin als zahnärztliche Helferin in der Zahnarztpraxis der Beklagten beschäftigt; die Belegschaft dieser Praxis bestand insgesamt aus zwei Arbeitnehmerinnen als Vollzeitarbeitskräften, zwei Arbeitnehmerinnen, die nicht Vollzeit, aber mehr als zehn Stunden wöchentlich arbeiteten ° einschließlich der Klägerin °, und vier teilzeitbeschäftige...