Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Gemeinsames europäisches Asylsystem. Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Richtlinie 2005/85/EG. Art. 23. Möglichkeit einer vorrangigen Bearbeitung von Asylanträgen. Nationales Verfahren, das für die Prüfung von Anträgen, die von Personen gestellt wurden, die einer nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland bestimmten Gruppe von Personen angehören, ein vorrangiges Verfahren vorsieht. Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Art. 39 der Richtlinie 2005/85. Begriff ‚Gericht’ oder ‚Tribunal’ im Sinne dieser Vorschrift
Beteiligte
Minister for Justice, Equality and Law Reform |
Refugee Applications Commissioner |
Tenor
1. Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, die Prüfung bestimmter Kategorien von Asylanträgen, die nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland des Asylbewerbers festgelegt sind, unter Beachtung der in Kapitel II dieser Richtlinie genannten Grundsätze und Garantien in einem beschleunigten oder vorrangigen Verfahren durchzuführen.
2. Art. 39 der Richtlinie 2005/85 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die einem Asylbewerber die Möglichkeit bietet, entweder gegen die Entscheidung der Asylbehörde ein Rechtsmittel bei einem Gericht oder Tribunal wie dem Refugee Appeals Tribunal (Irland) einzulegen und gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel bei einem höheren Gericht wie dem High Court (Irland) einzulegen oder die Gültigkeit der Entscheidung der Asylbehörde vor dem High Court anzufechten, gegen dessen Urteile ein Rechtsmittel zum Supreme Court (Irland) möglich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 8. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2011, in dem Verfahren
H. I. D.,
B. A.
gegen
Refugee Applications Commissioner,
Refugee Appeals Tribunal,
Minister for Justice, Equality and Law Reform,
Irland,
Attorney General
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter E. Juhász, U. Lõhmus, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau D., vertreten durch R. Boyle, SC, A. Lowry und G. O'Halloran, BL, beauftragt durch A. Bello Cortés, Solicitor,
- von Herrn A., vertreten durch R. Boyle, A. Lowry und G. O'Halloran, beauftragt durch B. Trayers, Solicitor,
- von Irland, vertreten durch E. Creedon, E. Burke, A. Flynn und D. O'Hagan als Bevollmächtigte im Beistand von M. Collins, SC, und D. Conlan Smyth, Barrister,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und L. Kotroni als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 23 und 39 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, berichtigt in ABl. 2006, L 236, S. 36).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, die Frau D. und Herr A., beide nigerianische Staatsangehörige, gegen den Refugee Applications Commissioner, das Refugee Appeals Tribunal, den Minister for Justice, Equality and Law Reform (im Folgenden: Minister), Irland und den Attorney General führen, weil der Minister in einem vorrangigen Prüfungsverfahren ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 sahen die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 u. a. die Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) stützt. Dieses Abkommen wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flücht...