Rdn 1851

 

Literaturhinweise:

Esser, Fesselung in der Hauptverhandlung Zugleich Anmerkung zu OLG Naumburg, Beschl. v. 24.6.2019 – 1 Ws (s) 213/19, StraFo 2020, 188

D. Herrmann, Zur Reform des Rechts der Untersuchungshaft, StRR 2010, 4

Hoffmann/Wißmann, Zur Fesselung von Untersuchungsgefangenen oder: Wann dürfen die Handschellen tatsächlich klicken, StV 2001, 706

König, Zur Neuregelung der haftrichterlichen Zuständigkeiten in § 119 StPO, NStZ 2010, 185

Lüderssen, Der gefesselte Angeklagte, in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 269.

 

Rdn 1852

1.a) Die Fragen der Fesselung des Angeklagten waren früher ausdrücklich geregelt. Diese Regelung in § 119 Abs. 5 a.F. ist durch das am 1.1.2010 in Kraft getretene "Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts" v. 29.7.2009 entfallen.

 

Rdn 1853

b) Nach der Neuregelung des U-Haftrechts durch das "Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts" v. 29.7.2009 besteht eine gespaltene Zuständigkeit für Beschränkungen im Rahmen der U-Haft. Während die Bundesländer zur Regelung der Fragen des Vollzugs der U-Haft zuständig sind, also durch eine Regelung zur Fesselung dem Entweichen aus der JVA vorbeugen können, ist der Bund (noch) zuständig für die Anordnung von Beschränkungen aus strafverfahrensrechtlichen Gründen. Das bedeutet, dass der Bund z.B. Regelungen zu den Haftgründen treffen kann (vgl. BT-Drucks 16/11644, S. 23) und das u.a. in § 119 Abs. 1 getan hat. Danach können einem inhaftierten Beschuldigten zur Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a) Beschränkungen auferlegt werden. Während die insoweit in der Praxis häufiger vorkommenden Beschränkungen in § 119 Abs. 1 S. 2 erfasst sind, richten sich alle übrigen Beschränkungen, also auch die Fesselung des Angeklagten, nach § 119 Abs. 1 S. 1 (s.a. BT-Drucks 16/11644, S. 23; vgl. aber OLG Naumburg, Beschl. v. 24.6.2019 – 1 Ws (s) 213/19, StraFo 2020, 203).

 

☆ Hat die JVA eine Fesselung aufgrund landesrechtlicher Vorschriften angeordnet, kann in der HV der Vorsitzende aufgrund der ihm eingeräumten →  Verhandlungsleitung , Teil V Rdn  3407 , den gefesselt vorgeführten Angeklagten von den Fesseln befreien lassen. Andererseits kann aber auch der Vorsitzende, wenn konkrete Umstände das erfordern (vgl. Teil F Rdn  1857 ), die Fesselung des ungefesselt vorgeführten Angeklagten anordnen bzw. eine von der JVA angeordnete Fesselung aufrechterhalten.Verhandlungsleitung, Teil V Rdn 3407, den gefesselt vorgeführten Angeklagten von den Fesseln befreien lassen. Andererseits kann aber auch der Vorsitzende, wenn konkrete Umstände das erfordern (vgl. Teil F Rdn 1857), die Fesselung des ungefesselt vorgeführten Angeklagten anordnen bzw. eine von der JVA angeordnete Fesselung aufrechterhalten.

 

Rdn 1854

2. Grds. wird der Angeklagte ungefesselt an der HV teilnehmen. Das ergab sich früher aus § 119 Abs. 5 S. 2 a.F. und folgt jetzt daraus, dass § 119 Abs. 1 S. 1 keine standardmäßige Geltung von Beschränkungen vorsieht, sondern für jede Beschränkung deren ausdrückliche Anordnung fordert (vgl. u.a. BVerfG StraFo 2015, 59 [einzelfallbezogene Abwägung]; KG StV 2010, 370; OLG Hamm NStZ-RR 2014, 114 [Ls.] m. Anm. Arnoldi StRR 2014, 144; StRR 2015, 153; OLG Naumburg, Beschl. v. 24.6.2019 – 1 Ws (s) 213/19, StraFo 2020, 203; SSW-StPO/Herrmann, § 119 Rn 22 ff. m.w.N.; D. Herrmann StRR 2010, 4, 11; König NStZ 2010, 185, 186 ff.; Esser StraFo 2020, 188). Das bedeutet, dass jede Beschränkung auf ihre konkrete Erforderlichkeit geprüft und ihre Anordnung begründet werden muss (BT-Drucks 16/11644, S. 24). Daraus folgt, dass eine Beschränkung nur angeordnet werden darf, wenn Anlass dazu besteht. Folglich nimmt der Angeklagte, wenn keine besonderen Gründe vorliegen, ungefesselt an der HV teil (vgl. Teil F Rdn 1856 f.).

 

Rdn 1855

3.a) Gem. § 119 Abs. 5 S. 1 a.F. war die Fesselung des Angeklagten in der HV dann zulässig, wenn die Gefahr von Gewaltanwendungen oder Widerstandsleistung bestand (Nr. 1), wenn der Angeklagte versuchte zu fliehen oder wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls, namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr bestand, dass er sich aus dem Gewahrsam befreien wird (Fluchtgefahr, Nr. 2), oder wenn Selbstmord- oder Selbstbeschädigungsgefahr bestand (Nr. 3; eingehend zu allem Lüderssen, S. 269; Hoffmann/Wißmann StV 2001, 706). Diese Gründe wird man auch nach der Neuregelung des § 119 Abs. 1 S. 1 als grds. ausreichend, aber auch erforderlich ansehen können, um eine Fesselung des Angeklagten anzuordnen (vgl. aber Teil F Rdn 1856 und OLG Naumburg, Beschl. v. 24.6.2019 – 1 Ws (s) 213/19, StraFo 2020, 203 m. Anm. Esser StraFo 2020, 188).

 

Rdn 1856

b)aa) Wird die Fesselung während der HV angeordnet bzw. wird angeordnet, dass eine von der JVA angeordnete Fesselung aufrechterhalten bleibt, ist Rechtsgrundlage für diese durch den Vorsitzenden erfolgenden Anordnung § 176 GVG oder § 231 Abs. 1 S. 2 (BGH NJW 1957, 271; OLG Dresden NStZ 2007, 479 f.; OLG Hamm NStZ-RR 2...

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