Im familiengerichtlichen Kindesschutzverfahren des sog. "Staufener Missbrauchsfalls" sind sowohl die Kindesanhörung als auch die Bestellung eines Verfahrensbeistands ausgeblieben. Dies haben die beiden beteiligten Gerichte in ihrem Abschlussbericht zur "Untersuchung der Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden und Gerichten bei Gefährdung des Kindeswohls sowie der Überwachung der Einhaltung von gerichtlichen Ge- und Verboten aus Anlass des "Staufener Missbrauchsfalls" selbstkritisch aufgegriffen."
Aus europäischer Perspektive sticht die direkte Anhörung des Kindes durch Familienrichter*innen in Deutschland heraus. Gesetzlich besteht eine uneingeschränkte Pflicht zur Anhörung zwar erst ab dem Alter von 14 Jahren (§ 159 Abs. 1 FamFG), die Grenze hat in der Praxis allerdings faktisch keine Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht sieht eine Anhörung ab dem Alter von drei Jahren als regelmäßig verpflichtend an. Das nächstniedrige Mindestalter für die verbindliche Anhörung liegt in der EU bei sieben Jahren (so auch in Norwegen), vier Länder setzen bei zehn Jahren an, sieben bei zwölf, vier bei 14 und eines bei 15 Jahren. In vier Ländern wird die Anhörung von den Fähigkeiten des Kindes abhängig gemacht, fünf Länder nennen kein spezifisches Alter.
Zwar nicht im Gesetz, aber mit seiner Praxis markieren die familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren in Deutschland einen deutlichen Pol auf einer Skala bei der Zuverlässigkeit einer direkten richterlichen Kindesanhörung. Familienrichter*innen haben in einer Studie von 2010 angegeben, dass sie durchschnittlich im Alter von 4,1 Jahren mit der Kindesanhörung beginnen. Als jüngstes Alter nennen 34,9 % drei Jahre, spätestens ab Schuleintritt geben 95,3 % an, Kinder stets anzuhören. Dass sich diese Selbstangaben nicht durchgängig an der tatsächlichen Praxis, sondern auch an dem rechtlich Erwarteten orientiert haben, zeigt eine jüngere Studie aus 2017: In 318 untersuchten Kinderschutzverfahren nach § 1666 BGB wurden lediglich 39,6 % der Kinder von den Richter*innen angehört, wobei ab dem Alter von 14 bis 18 Jahren mit 78,8 % der höchste Wert verzeichnet werden konnte. Aber selbst diese Werte dürften im internationalen Vergleich noch am oberen Ende liegen.
Diesen Ansatz der direkten Anhörung des Kindes durch den/die Richter*in verfolgen nicht alle Länder. In England und Schweden erfolgt die Anhörung bspw. zwar hoch zuverlässig, aber nur durch den Verfahrensbeistand und wird somit (fast) ausschließlich mittelbar ins Verfahren eingebracht. Während es sich bei den Verfahrensbeiständen in England und Schweden um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt, dürfte die Qualifizierung der Professionellen, die in Deutschland im familiengerichtlichen Verfahren das Kind anhören, – mit regionalen Unterschieden – eher als sich entwickelnd bezeichnet werden können. Bei der Konzentration auf die indirekte Anhörung im familiengerichtlichen Verfahren über Verfahrensbeistände wird in England und Schweden den Kindern eine verlässliche und kontinuierlich zur Verfügung stehende Person an die Seite gestellt. Diese begleitet das Kind während des gesamten Verfahrens und in dessen unmittelbarer Folge kontinuierlich, führt regelmäßige Gespräche, informiert über Fort- und Ausgang und ist bei Fragen und Sorgen ansprechbar. In Deutschland haben zwar eine Vielzahl von Akteuren (Familiengericht, Verfahrensbeistand, Jugendamt, psychologischer Sachverständiger, Erziehungsberatungsstelle) die Pflicht, das Kind anzuhören und wird im familiengerichtlichen Verfahren die direkte Anhörung durch die Familiengerichte bekanntlich durch die indirekte Anhörung über die Verfahrensbeistände ergänzt. Aber wie die Beteiligungen bzw. Anhörungen durch die verschiedenen Akteure im familiengerichtlichen Verfahren miteinander in Beziehung stehen und wer hierbei welche Funktion hat, lässt das Gesetz bislang offen. § 158 FamFG räumt jedenfalls den Verfahrensbeiständen eine ausgesprochen starke Verfahrensstellung ein, während ihre Counterparts in England und Schweden eher eine informell starke Stellung im Verfahren einnehmen. Sie sind diejenigen, auf deren Einbeziehung sich die Kinder verlassen können und die im Verlaufe des Verfahrens kontinuierlich und aktuell über die Situation des Kindes und seine Sichtweisen berichten.
Die kontrastierenden Konzepte der Kindesanhörung im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren dürften auf beiden Seiten eine qualifizierte Praxis der Beteiligung der Kinder für sich beanspruchen. Auch wenn aus deutscher Perspektive vor dem Hintergrund der eigenen Sozialisation sicherlich häufig die eigene Herangehensweise vorzugswürdig erscheint, wird im Vergleich schwerlich ein eindeutiges Besser oder Schlechter, sondern erst einmal lediglich ein "anders" konstatiert werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls, als es 1980 die direkte Anhörung durch das Familiengericht erstmals verpflichtend gefordert hat, einen klaren Blick auf ...